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Oath-Rooted in Eichenkrone

Metadata

Table of Contents

  1. Ash and Iron on the Hunter’s Path
  2. Threshold of the Fallen Hall
  3. When the Oath-Wood Answers
  4. Truth Under the Canopy
  5. Lessons in the Twisted Dusk
  6. Those Who Breach the Misdirected Paths
  7. Judgment in the Throne Circle
  8. Leaving the Roots Behind

Content

Ash and Iron on the Hunter’s Path

Auf der Straße, die wie eine blasse Narbe am Saum des Schwarzwaldes entlangführt, hält Sigerhild den Schritt klein, unscheinbar, als wolle sie selbst dem Weg nicht zu sehr zur Last fallen. Das Bündel an ihrer Hüfte – getrocknete Wurzeln, zerplatzte Tonkrüge, in Tuch gewickelte Salben – klappert leise, ein armes, harmloses Klirren, das Bauern misstrauisch, aber nicht furchtsam macht. Wer sie von weitem sieht, sieht nur den gebeugten Rücken einer, die zu viele Meilen und zu wenig Brot hinter sich hat.

In jedem Weiler legt sie denselben Weg zurück: Erst an der Brunnenbank sitzen, schweigen, den Leuten Raum lassen, ihr Bild von ihr zu formen. Eine Alte mit vom Frost krummen Fingern nennt sie „Wetterbändigerin“, drückt ihr zwei faulige Äpfel in die Hand und flüstert von drohendem Hagel. Ein Jungbauer, nervös wegen seiner schwangeren Frau, fragt stockend nach einem Glücksband, als rede er von einem heimlichen Laster. Andere sehen nur eine Mund zu viel und schicken sie weiter, bevor die Hunde Gefallen an ihr finden.

Sie widerspricht keinem dieser Namen. Ein Nicken, ein schiefes Lächeln, ein paar bedächtige Worte über Windrichtung, Saatzeit, das Runzeln der Eichenrinde am Dorfrand – das genügt, damit sie das Ihre in sie hineinlegen: Ehrfurcht, Furcht, Hoffnung. In ihren Ohren klingen alle diese Worte wie armselige Schatten der alten Titel, die ihr einst von rauchgetränkten Hallen und goldbeschlagenen Altären her zugerufen wurden. Damals kniete man vor ihr. Jetzt tastet man nur nach ihren Händen, wenn das Vieh verendet oder ein Kind zu heiß atmet.

Jeden Morgen, noch ehe der erste Rauch aus den Schornsteinen steigt, hockt sie sich irgendwo hin, wo niemand sie recht sehen kann: hinter den Holzschuppen, an den Rand eines nassen Feldes, zwischen Brombeerranken. Mit rußigem Finger zieht sie die dunkle Schicht über ihre Stirn, immer dieselbe Bewegung, immer dieselbe heimliche Andacht. Unter der kalten, schmierigen Spur pocht die alte Zeichnung: feine, blasse Linien, in denen noch der Druck der Klingen lebt, die sie zur Dienerin der Götter stempelte. Einmal bedeuteten diese Zeichen Rang, Schutz, Auftrag.

Nun bedecken sie nur, was jagen würde, wenn man es erkänne.

Nachts, in den staubigen Heuböden über den Viehställen, wenn Kuhatem wie lauwarme Wellen gegen die Dielen schlägt, lockert sich die Maske. Sigerhild liegt auf dem Rücken, den Mantel um sich geschlagen, und zählt im Dunkel die Querbalken wie andere ihre Gebetssteine. Zwischen jedem Balken liegt ein Vers, eine Wendung aus alten Liturgien, die sie sich selbst verboten hat. Sie murmelt nur Bruchstücke, halbe Anrufungen, bricht ab, bevor ein Name ganz geformt ist.

Manchmal knarrt die Leiter, und eine Bäuerin taucht im Loch der Luke auf, ein fieberndes Kind an der Brust, einen keuchenden Alten hinter sich. Dann gehorchen Sigerhilds Hände schneller als ihr Gewissen: Sie prüft Puls und Nacken, lauscht dem rasselnden Atem, mischt im Schatten des Stallfensters Kräuter in lauwarme Molke. Ihre Worte sind klein und ungefährlich – Segensfetzen über Schlaf, über Lockerung der Glieder, über Frieden im Traum.

Erst wenn die Schritte sich entfernt haben und die Leiter wieder leer in der Finsternis hängt, presst sie den Daumen hart auf die verborgenen Narben über der Stirn. Die älteren, bitter süßen Formeln steigen in ihr auf, voll Blut und Bindung, und sie würgt sie hinunter, bis nur der Geschmack von Stallstaub und kaltem Eisen in ihrem Mund bleibt.

In Waldheims Gerbergestank aus Lauge, Rauch und fauligem Wasser beginnt Bernulfs Reich dort, wo erwachsene Blicke stumpf werden. Die bröckelnde Kellergrube der alten Lohgerberei riecht nach nassem Fell und Schimmel, doch für seine Schar ist sie eine Halle des Obdachs: umgestürzte Kisten als Stühle, ein gesprungener Bottich als Ratstisch, mit Kreide gezogene Gassenlinien und Fluchtwege an der rußigen Wand. Über den Köpfen hängen strohgefüllte Felle wie dunkle Fahnen, Tropfen fallen langsam in Pfützen, zählen die Zeit in dumpfen Schlägen.

Bernulf sitzt auf seiner ausgesuchten Kiste, den Arm lässig über das Knie gelegt, die Last des zu schweren Eidringes unter Leder und runengekerbter Schnur verborgen. Einer nach dem andern rutschen die Kleinsten an der Strickleiter herab, bleiche Gesichter, hungrige Augen, und kippen ihre Gerüchte vor ihm aus: neue Wachen am Nordtor, ein Krämer mit einem Wagen voll Relikt-Holz im Hinterhof der Zöllner, ein Dorfpriester, der zu viele Fragen nach verschwundenen Jungen stellt und Münzen zeigt, deren Wappen Bernulf nur zu gut kennt.

Wenn Streit ausbricht – um eine gestohlene Brotrinde, einen misslungenen Schnitt an einem Beutel, einen blauen Fleck, der mehr sagt als Worte –, wird Bernulf still, und die Grube hält den Atem an. Er lässt alle reden, getrennt, nacheinander; stellt scharfe, unkindliche Fragen, die selbst die Älteren verwirren würden: Wer stand wo? Wer hat zuerst geflucht, wer zuerst gefasst? Er legt die Fetzen der Geschichten nebeneinander wie Scherben und sucht nach der Kante, an der Blut oder Hunger oder nackte Gier den ersten Schritt getan haben. Was dann folgt, sind Urteile, nie Befehle. „Du gibst morgen deine Portion an sie ab.“ – „Ihr zwei tauscht die Posten am Südgraben.“ – ein hartes Kinnzucken hinüber in die dunkelste Ecke des Kellers, wo niemand gern sitzt und doch jeder weiß, was die eine Nacht dort bedeutet. Er wählt jedes Wort, als taste er im Nebel nach einer unsichtbaren Grenze; spürt, wie der Ring an seinem Handgelenk schwerer wird, wenn irgendeine Wendung zu sehr nach Fluch oder Schwur riecht. So zahlt er mit geteilter Rinde, verschobenen Wachen, mit Scham statt Blut – kleine Münzen, die doch reichen, um die Bande enger zu ziehen, ohne die unsichtbaren Knoten seines eigenen Eides fester zu schnüren.

Jenseits der Kellergrube breitet sich sein „Hof“ als lebende Karte aus: Gassen, Dachfirste, Rinnsteine, ein Geflecht, das nur Kinder ganz zu lesen wissen. Bernulf geht es täglich ab, den geflickten Mantel glatt gezogen, und zählt Türen, die zu hastig ins Schloss fahren, Münder, die verstummen, Blicke, die vor dem Eisenblinken an seinem Handgelenk wegrutschen. Er merkt sich, wo die Waschfrauen länger als nötig am Brunnen verweilen, welche Zöllner plötzlich andere Wege nach Hause nehmen. Abends lehnt er am geborstenen Sturz eines verrußten Seitenhofes, wenn seine Schar in Einsen und Zweien zurücktröpfelt. Sie zahlen mit Geflüster über betrunkene Knechte, verschwiegene Karren im Mondlicht, neue Zeichen fremder Banden an feuchten Wänden; er entlohnt mit Brotrinden, trockenen Winkeln, einem Schulterklopfen, das wie ein Versprechen wirkt, ohne eines zu sein. Die Geschichten vom dunklen Forst, von alten Göttern in Wurzeln und Stein, von einer gestürzten Halle, in der Eide neu geknüpft werden können, sind für ihn noch Rauch – aber er hütet sie bereits wie seltenes Kleingeld, dreht jedes Wort im Geist, prüft, ob nicht irgendwo zwischen Lied und Lüge ein Wegschlupf für seinen eigenen Ring verborgen liegt.

In den hintern Stuben, wo sie ihre Strohlager Nacht für Nacht neu erkauft, misst Sigerhild ihre „Heilerbesuche“ nach den Glocken der Stadt: wenn die Weiber auf dem Markt handeln und die Hausväter vor dem Altar knien, rutscht sie geräuschlos durch Nebenflure, die niemand zählt. Sie stellt einen rissigen Schemel unter jede Tür und spielt die Fleißige, die Spinnweben aus den Stürzen kratzt; aber ihre rußgeschwärzten Finger fahren langsamer, als es nötig wäre. Ash und Speichel schmieren in die Maserung, und zwischen den Rillen des Holzes liegen die eng gezwängten Stäbe alter Bannrunen, so verdreht und klein, dass sie dem ungeübten Auge wie nichts als Schmutz erscheinen.

Wo andere Heiler mit Kräutern und Laugen prahlen, murmelt sie beim Wischen Silben, die einst vor Opfersteinen erklangen. Jede Schwelle, die sie so zeichnet, wird zu einem stummen Mitwisser: ein Durchgang, der sich zögerlich schließt, wenn fremde Stiefel nahen; ein Türholz, das sich schwer wie nasser Eichenbalken anfühlt, sobald Jäger mit zu vielen Fragen davor stehen. Zweimal schon hat sie in der Enge eines stinkenden Hausflurs gespürt, wie das Holz selbst kurz „atmete“, als eine Truppe städtischer Schergen vorbei polterte und ohne Grund an genau jener Tür vorüberging, hinter der sie im Schatten stand.

Sie kehrt auch an Orte zurück, an denen sie nur eine Nacht lag. An der unscheinbaren Kerbe in einem Sturz erkennt sie ihre Arbeit wieder, tastet mit dem Daumen darüber und horcht in das Schweigen dahinter. Wenn der Strich trocken und taub ist, erneuert sie ihn nebenbei, als wische sie bloß Staub. Manchmal fühlt sie dabei ein leises Nachgeben, als rückte ein unsichtbarer Riegel ein. Dann weiß sie: Diese Lücke im Mauerwerk, dieser armselige Hintereingang, gehört nun zu jenen Türen, deren Holz sich an ihre Haut erinnert, wenn sie eines Tages fliehen muss – und irgendetwas Altes im Gebälk kurz zu ihren Gunsten die Waage neigt.

Unter tief hängenden Dachrändern, die nach altem Rauch, Kohl und feuchter Wolle riechen, verrichtet sie ihr Werk an Kranken und Sterbenden mit demselben gespaltenen Gewissen, das sie aus dem Tempel getrieben hat. Vor den wachen Augen der Angehörigen kocht sie bitteres Kraut in rußigen Töpfen, knetet Salben aus Schmalz und zerstoßenen Wurzeln, murmelt harmlose Hecken­sprüche über fieberheiße Stirnen. Ihre Hände sind langsam und bedächtig, damit niemand sieht, wie sich zwischen den Griffen Fingerkuppen kurz an Pulsadern, Brustbein, Stirnbein heften, tastend wie Blinde.

Für den schwächer werdenden Atem aber beugt sie sich tiefer, bis ihr Mund fast das Ohr streift. Dann kommen andere Silben, alte, trocken wie Herbstlaub, ein Flüstern, das eher in den Knochen zu hören ist als im Raum. Sie zeichnet mit dem Daumen schmale Wege: eine Tür im Nebel, einen Pfad am Sumpfrand entlang, ein Schlupfloch zwischen den Bannern der Herren hindurch, durch das eine Seele entgleiten kann, ohne gleich unter fremdem Zeichen wieder aufzuwachen. Es sind keine großen Verheißungen, nur enge, listige Auswege, die eher an einen gelungenen Diebstahl erinnern als an heilige Erlösung.

Wenn die Witwen sie später am Ärmel halten, tränenden Auges, und fragen, wohin Mann oder Kind gegangen seien, wird ihr Rücken gerade und ihr Blick dumpf wie verschmutztes Glas. Sie antwortet mit kunstvoll verschachtelten Sätzen, redet von Wegen „jenseits des Zählbaren“, von „Räumen, wo weder Knecht noch Herr den Fuß setzt“. Sie achtet darauf, keine Richtung zu nennen, keinen Namen, keinen festen Ort, an den sich ein lauernder Anspruch heften könnte. Bei jedem Wort prüft sie das Gewicht auf der Zunge, hält inne, wenn der Raum merklich dichter wird oder der Hauch Metall auf der Luft brennt.

Manchmal, mitten in so einer Vertröstung, spürt sie das feine, unsichtbare Zucken, als hätte jemand weit hinten im Dachstuhl ein Seil über eine Kante gelegt. Ein Lauscher, alt und wortgierig, der versucht, aus ihrer Rede einen gültigen Anspruch zu ziehen. Dann biegt sie den Satz um, lässt ihn im Ungefähren auslaufen, und das Ziehen lässt nach, wie eine Hand, die wieder vom Griff eines Messers rutscht. Jede solche überstandene Frage, jeder Sterberaum, den sie verlässt, ohne dass sich ein Banner in ihrem Rücken schließt, schärft ihr inneres Gehör: für die Momente, in denen ein Versprechen mehr ist als Trost – eine Schwachstelle, an der sich die unsichtbaren Herren fassen lassen oder doch, wenn man geschickt genug ist, ins Leere greifen.

Je tiefer sie in die Risse der Stadt kriecht, desto schärfer wird ihr die Sprache wieder zum Messer. In Schenkenwinkeln und an verrußten Herden hört sie geschworene Männer murren, dass ihre Herren ihnen mit Pergament und Petschaft die Seele abgekauft hätten. Sie salbt ihre Klagen nicht mit Trost, sondern legt ihnen gespaltene Segenssprüche in den Mund, Sätze mit so vielen Haken und Schlaufen, dass sie nichts fest binden, was nicht längst gegeben ist. Danach bleibt sie immer einen Atemzug zu lange stehen, die Lippen leicht geöffnet, und kostet die Luft.

Wenn der Geschmack von Metall dicker wird, die Schatten im Gebälk zäher, weiß sie: Irgendetwas Altes beugt sich herab, prüft, ob in diesen Worten ein neuer Griff liegt. Manchmal spürt sie, wie ein unsichtbarer Knoten kurz anzieht, als wolle er einen der Männer, die so leichtfertig von „verkauften Seelen“ reden, fest im Netz haben. Dann biegt sie das Gesagte in ein Ungefähres zurück, lässt das Bild verrinnen: nicht „lösen“, sondern „lockern“, nicht „brechen“, sondern „auseinanderlegen, bis nichts mehr zu fassen bleibt“.

Mit jeder solchen Wortwendung lernt sie feiner zu hören, wo ein Eid zu hart ausgesprochen, wo eine Bitte zu scharf umrissen ist. In den Pausen zwischen Husten und Becherklang lauscht sie den ungesagten Teilen der Sätze, den verschluckten Namen, und merkt, wann eine unsichtbare Hand nach ihnen tastet. Dieses Gespür – für lauernde Präsenz über einer armseligen Tafel, für den Augenblick, in dem ein Schwur kippt vom Gerede in Geltung – wird ihr zum heimlichen Kompass, als das Gerücht von Relikt-Schiebern, von tiefwaldigen Handelstischen und neu zu knüpfenden Bünden sich dichter um die Stadt legt wie Nebel.

And er pflegt sie, diese flackernde Furcht, wie andere ein Herdfeuer. Ein scheues Mädchen mit Kohlenaugen zählt für ihn, wie oft der Stadthauptmann betrunken aus derselben Hintertür torkelt; ein lahmbeiniger Junge hockt tage­lang an der Zollpforte, merkt sich, welche Kaufleute immer einen Beutel zu viel tragen. Bernulf hört zu, fragt knapp nach, ordnet jeden Funken Misstrauen wie ein Schreiber Pergament. Manchmal, wenn ein Name zum dritten Mal fällt, wenn zwei scheinbar fremde Siegel plötzlich dieselbe Kerbe im Wachs teilen, fährt es kalt durch ihn: Hier liegt ein Griff. Er denkt nicht in Gebet, sondern in Druckpunkten – wem man die Angst vor Schande, wem die vor Steuerprüfern, wem die vor der Tempelbuße ins Ohr flüstern muss, damit er fällt wie ein schlecht verkeilter Balken.

Abends, wenn die Schläge und Rangeleien des Tages verhallt sind und seine Bande unter zerbrochenen Sparren hockt, spielt er die Stimme durch wie andere das Messer in der Hand. Er lässt den Ring schwerer werden, bis der Ton dunkel und gleichmäßig fällt, ohne das helle Knacken von Kinderangst. Dann wieder lockert er den Griff, prüft, wie weit er die Schwere rufen kann, bevor etwas Unsichtbares zurückstößt und sich wie ein kalter Finger in seine Pulsader legt. In diesen Momenten lauscht er nach innen, tastet an den Rändern der Fessel entlang wie an einem Schlüsselloch. Wenn ein breitschultriger Bursche zuerst die Augen senkt oder ein erwachsener Hehler ein Einwand im Hals hinunterschluckt, merkt er sich jedes Zucken, jede Stille. Später, allein zwischen strohigen Decken und morscher Wand, sortiert er sie neben die halblaut gemurmelten Hauslieder von Eidssteinen und Waldgöttern: loses Erz, das nur auf ein Gerücht von einem Ort wartet, wo man den Eid selbst drehen kann wie eine Klinge im Holz.

Der Prahl im Kuhstall bleibt ihr an den Rippen hängen wie kalter Rauch. Tage nachdem sie dem Schmuggler mit kaltem Wasser das geronnene Rot von der Haut gewischt, seine Platzwunde notdürftig mit Spinnweb und Leinen geschlossen und ihn in das säuerliche Heu zurückgedrückt hat, bis sein Schnarchen wieder schwer und unbedacht geht, findet sie sich dabei, seinen Satz zwischen den Zähnen zu wiegen. „Könige oder Leichen, nichts dazwischen“, murmelt sie, wenn sie Feuer anbläst oder den Mörser schwenkt, kostet jedes Wort einzeln, als prüfe sie, ob es mehr hält als nur Trunkenmut – ein Spruch wie eine Losung, oder wie eine versteckte Drohung.

In der folgenden Nacht sitzt sie in einer Waldheimer Schankstube, wo der Rauch sich unter den Balken staut und der Boden von verschüttetem Bier klebt. Sie hat ihren Kasten mit Salben und Schröpfköpfen neben sich gestellt, ein paar armselige Bauernhände verarztet, Hustenbrühen gegen abgelegte Neuigkeiten getauscht. Während die Würfel klacken und ein Fiedler ein altes Lied über Grenzfehden schrammt, lenkt sie das Gespräch sacht vom Kornpreis zu Wegelagerern, von Wegelagerern zu „verfluchten Winkeln“ im Wald.

„Da oben im Nordforst“, sagt sie beiläufig, während sie einem Fuhrknecht die geschwollene Hand betastet, „heißt es, manchen Pfad möge man besser meiden. Meineinen verirrt sich ungern mit Kräutern und Kranken in böses Holz.“ Sie lässt die Bemerkung fallen wie Zufall, doch ihre Ohren werden schärfer.

Es dauert nicht lange, bis einer der älteren Männer, der schon tief ins Fass geschaut hat, mit der Zunge schwer ansetzt. „Da, wo die Wege krumm werden, Frau Heilerin? Wo der Kompass im Kopf auf einmal tanzt? Zwischen den alten Hirschemärschen und den Steinschanzen, von denen keiner mehr weiß, wer sie setzte?“ Ein jüngerer lacht nervös, sagt, nördlich vom letzten Waldweiler „gehe jeder Weg falsch“, und ein dritter knurrt von Reitern, die nur noch als geborstene Achsen und leere Gespanne wiederkamen.

Sigerhild stellt keine plumpen Fragen. Sie zupft an Worten. „Falsch, sagt Ihr? Oder… umgeleitet?“ Sie spricht das Fremdwort weich, als gehörte es in einen Segensspruch. „Gibt’s da eine alte Thingstätte? Einen Jagdhof, den keiner mehr nutzt? Manchmal… bleiben Orte hungrig, wenn man sie verwaisen lässt.“ Eine Frau am Herd bekreuzigt sich hastig mit der Hand, aber nicht im neuen Zeichen; sie tippt dreimal mit dem Finger an die Brust, als klopfe sie an eine unsichtbare Tür.

Langsam fällt der Name wieder, halb verschluckt, in unterschiedlichen Mündern: „Eichenkrone nicht nennen, wenn der Wind steht“, „oben, wo die Kronen sich schließen wie ein Dach“, „da, wo der Herr der Hirsche noch Anspruch nimmt“. Keiner sagt „Halle“ oder „Hof“, doch sie hört, wie ihre Stimmen dichter werden, sobald von „Steinen, die schwören lassen“ die Rede ist, von Jagdgesellschaften, die dort „mehr versprochen haben, als sie heimtragen konnten“.

Sie trinkt ihren dünnen Bierrest, als schmecke sie auf der Zunge, was sie hört: metallischen Nachhall, dumpf wie fern geschlagener Stahl. Mehr als einer der Männer beschreibt, auf seine Art, denselben Abschnitt im Wald, denselben knorrigen Rücken der Hügel, dieselbe Stelle, von der die Hunde nicht weiterziehen wollten. Dass sich oben „der Tag schnell verkürzt“, dass Schatten im Unterholz „mit einem mitgehen und doch bleiben“.

Als die Schankbuben die Leuchter löschen und die letzten Gäste hinauspoltern, sitzt Sigerhild noch einen Augenblick länger, den Mantel schon um, die Kapuze tief. In der Stille summt sie die Worte des Schmugglers nach und legt die gezeigten Richtungen wie Runenstäbe nebeneinander: eine Biegung im Bach, ein vom Blitz gespaltenes Geweih an einer Eiche, ein verfallener Opferstein, von Moos zerfressen. Mehr als ein Weg führt nach Norden, doch drei verschiedene Zungen haben von derselben Stelle berichtet, wo Wege „falsch“ werden.

„Könige oder Leichen“, haucht sie schließlich, als sie in den kalten Hof hinaustritt. Diesmal hängt der Satz schwerer. Nicht mehr nur ein trunkseliger Prahl, sondern ein Echo. Etwas im Dunkel über den Dachfirsten scheint mitzulauschen, als würde eine unsichtbare Hand die Worte sorgfältig zur Seite legen, um sie später, tiefer im Forst, wieder hervorzuholen.

Eine andere Nacht, ein anderer stinkender Hinterraum, wo der Rauch schwer unter der Decke hängt und der Speck an den Wänden schwitzt. Bernulf sitzt auf einem umgestülpten Fass, die Füße lose baumelnd, und hält den Mund. Vor ihm feilscht ein Hehler mit grauen Schläfen über geraubte Ikonen und zerbeulte Opferbecher, redet sich heiß über „schlechtes Pflaster“ und „Tempel, die man besser nicht zweimal bestiehlt“.

Als der Mann das Wort ausspuckt – „Eichenkrone“ –, in der alten Zunge, halb Fluch, halb Beschwörung, zuckt Bernulfs rechte Hand, sucht wie von selbst den klobigen Ring unter dem Lederband. Er zwingt die Finger zur Ruhe, lässt den Blick über den Dreckboden schweifen, als langweile ihn das ganze Gerede. Doch inwendig zählt er jedes Bröckchen, das vom Rand des Mauls fällt: tiefer Nordwald, Wagen, die spur-los bleiben, ein Stein, bei dem „Eide an einem kleben wie Harz“.

Später, allein zwischen verkohlten Dachbalken und dem säuerlichen Geruch seiner schlafenden Bande, setzt er sich aufrecht hin, den Atem flach. Er legt die kalte Schwere des Rings in die Handfläche, presst ihn dann an den Hals, genau auf die pochende Stelle. „Eichenkrone“, flüstert er. Der Laut stolpert, kratzt, zieht im Nacken. Noch einmal, härter: „Eichenkrone.“ Etwas im Eisen antwortet mit dumpfem Druck, als wolle es ihm die Zunge führen.

Er treibt die Schwere hinauf in die Stimme, wie er es gelernt hat, wenn er Gehorsam fordert, und wiederholt den Namen, bis das Zittern aus den Silben weicht und nur noch ein rauer, nüchterner Klang bleibt. Kein Schreckgespenst mehr. Ein Ort. Ein Werkzeug. Etwas, das man finden, greifen, vielleicht brechen kann.

Der Streit um die Beute beginnt im Dämmerlicht eines Seitenhofs, wo der Atem der Maultiere dampft und der Modergeruch nasser Säcke schwer hängt. Ein Relikhändler erwartet eine Lieferung „Tempelschrott“, billig zu haben, wenn keiner nach Herkunft fragt; zwei verschiedene Banden glauben, den Zuschlag zu haben. Sigerhild ist zuerst da, gebeugt wie eine müde Kräuterfrau, den Kasten voller Schröpfkannen und Salben, und bietet an, aus verbogenen Bronzetafeln die „übriggebliebenen Segensreste“ zu lesen. Später sickern Bernulfs Läufer zwischen Schubkarren und Holzstapeln, Finger flink, Augen überall. Als ein unscheinbarer Messingring plötzlich aufglimmt und einem Jungen die Haut versengt, fährt Sigerhild dazwischen, stößt ein kurzes, scharfes Wort in Tempelmund aus. Der Glanz bricht. Aus dem Schatten tritt Bernulf, Blick hart, weil eine Heilerin solche Worte nicht kennen darf.

Die Luft wird dünn. Er ruft die Schwere des Rings in seine Stimme, erinnert die Kinder an ihren Eid und lässt sie hinter sich aufziehen wie eine kleine, zerlumpte Reihenfront. Sigerhild richtet sich ein Stück auf, wirft die Kapuze zurück, gerade so weit, dass der Relikhändler die alten, vernarbten Linien an ihrem Haaransatz erahnen kann – genug vom Anblick einer geweihten Hand, um ihn nervös mit den Füßen zu scharren. Sie spricht von Heiligtumsrecht, von Weihegut, das niemand „kauft“, ohne sich Anteil an seinem Fluch zu holen. Bernulf kontert mit kalter Aufzählung: wessen Messer diesen Hof wirklich sichern, wessen Kinder dafür sorgen, dass fremde Ware lebend durch die Gassen kommt. Zwischen ihnen liegen ein paar schartig glänzende Stücke Metall und viel unausgesprochene Drohung. Keiner kann nachgeben, ohne Gesicht zu verlieren; keiner kann durchgreifen, ohne Blut zu riskieren, das er sich nicht leisten kann. Am Ende hält ein gespanntes Schweigen beide Seiten im Griff wie ein unsichtbares Band – vorerst.

Im rußgeschwärzten Dachboden über dem Stand des Relikhändlers breiten sie ihr Misstrauen wie Ware aus. Sigerhild legt die Scherben nicht bloß in Reihen, sondern in Kreise und Kreuze, so wie Opferplatten einst um einen fehlenden Mittelstein lagen, deutet auf Bruchkanten, wo eine Fassung für einen Schwurstein gewesen sein muss. Bernulf lässt das kalt wirken, erzählt dann beiläufig von einem überwachsenen Jägersteig, den Schmuggler nur flüsternd erwähnen, weil er „Tage frisst und wieder ausspuckt“, wenn man ihm weit genug folgt. Zug um Zug tauschen sie Bruchstücke von Wahrheit, ohne Namen zu nennen: sie redet von vergrabenen Tempelregistern, verschollenen Eidespriestern, er von Gespannen, die „hinter einem Ring alter Eichen“ wie ausgelöscht seien. Aus den lose hingeworfenen Andeutungen schält sich eine Richtung, ein Ort, der wie ein Zahn in beiden Gedanken zieht – und der außer Reichweite bleibt, solange sie einander Fremde sind.

Die Abrede, auf die sie sich einigen, ist schmal wie ein Messerrücken und voller Haken: Er führt sie auf seinem heimlichen Steig, hält seine Läufer bei der Leine; sie liest jedes Zeichen, das sie finden, und prüft mit ihm die Ränder seines Schwurs, ohne die Strafe zu wecken. Kein wahrer Rangname, keine Fragen nach vergangenen Blutschulden, kein laut gesprochenes Gelöbnis. Noch vor Morgengrauen wischt Sigerhild frischen Ruß über die Narben, die nach Tempel und Scheiterhaufen riechen, und wählt nur Werkzeuge, die als Schröpfkannen und Salbenkram durchgehen. Bernulf verteilt Messer und Münzen unter den Ältesten seiner Bande wie ein Burgherr vor einer Belagerung, nicht wie ein Pilger. Sie schlüpfen bei einem Gerbertor aus Waldheim, während die Stadt noch schnarcht; seine Vertrautesten zerfließen in den Gassen, tauchen dann, einer nach dem andern, auf dem sich schlängelnden Jägerpfad wieder auf, der sie in das lauschende Dunkel des Waldes zieht.

Der Wald schließt sich ihnen zur rechten Mittagszeit mit ernsthafter Absicht, die Bäume wachsen höher, die Luft wird grün und dünn. Der Jägerstieg schrumpft zu einem schmalen Gang zwischen Stämmen, die wie Säulen stehen, das Licht tropft nur noch in fahlen Fetzen durch das dichte Blätterdach. Feuchter Modergeruch steigt aus dem Moos, und jeder Schritt klingt gedämpft, als legten sie ihre Sohlen auf altes Filzwerk von Nadeln und Laub.

Sigerhild fällt um eine halbe Länge hinter Bernulf zurück, gerade weit genug, um den Blicken der Kinder auszuweichen. Mit dem Daumen tastet sie über den Griff ihres Gürtelmessers, wo die Haut lange Kerben kennt; hastig ritzt sie mit dem Nagel unsichtbare Stabzeichen nach, wie man sie einst an Türschwellen schabte: für Lautlosigkeit, für verschobene Blicke, für Schritte, die nicht gezählt werden. Zwei, drei Striche nur, kaum gedacht, da fährt sie schon zusammen. Einer von Bernulfs älteren Läufern, ein schmaler Bursche mit Fuchsaugen, schaut über die Schulter zurück. Seine Finger ruhen flach am Gürtel, doch Sigerhild sieht, wie die Knöchel weiß werden. Sie lässt den Griff los, lässt das Messer dumpf gegen die Hüfte schwingen wie bloßes Werkzeug und senkt den Blick zu ihrem Bündel, als suche sie eine Salbendose.

„Weiter, Wulf, der Pfad frisst nur die, die stehen bleiben“, knurrt Bernulf vorne, ohne sich umzudrehen. Er klingt alt, älter als seine zwölf Winter, doch seine Worte sind sorgfältig lässig. „Hinter dem nächsten Hügel liegen die ersten Verstecke. Alte Fallensteller haben da Kisten vergraben – Eisen, vielleicht ein paar gute Spitzen. Vielleicht auch was Besseres.“ Er beschreibt Schätze, von denen er selbst nicht recht weiß, ob sie je existierten: verrostete Helme, in deren Futter sich Silbernadeln verheddert hätten, Beutel voll Münzen, die so alt seien, dass kein Stadtschreiber mehr ihr Gepräge kenne.

Die Kleineren hängen an seinen Bildern wie an Laternen in der Dämmerung. Immer wieder fragt einer leise: „Gehören die dann uns, Boss?“ Bernulf streckt die Hand zurück, um einem Jungen über den Kopf zu fahren, wie ein Herr mit einem Hund, und lacht kurz, rau. „Wenn wir sie zuerst finden. Wenn ihr schnell und still seid.“

Doch jedes Mal, wenn der Wind dreht und ein neuer Strang kalter Luft aus der Tiefe des Waldes heraufzieht – nach nassem Stein riechend, nach etwas Altem, das unter Wurzeln liegt – verengt sich sein Gesicht. Unwillkürlich reibt er an dem lederumwickelten Eisenreif um sein Handgelenk, dem zu schweren Ring, der nie so richtig passen will. Die Runenschnüre, die ihn halten, sind an den Kanten dunkel verfärbt. Er tastet nach ihnen, als müsse er prüfen, ob der Ring nicht heimlich dünner geworden sei, ob er nicht eines Nachts schmaler werden und sich schließen könne wie ein Ratteneisen.

Das Metall fühlt sich heute nicht warm an wie sonst, wenn der Schwur in ihm brodelt, sondern kalt, beinahe feucht, als käme Nebel aus der Haut. Bernulf verzieht keine Miene, zwingt seine Finger, das Reiben in ein beiläufiges Kratzen an der Manschette zu verwandeln. Nur Sigerhild, die seinen Rücken aus halber Länge beobachtet, sieht, wie seine Schultern jedes Mal ein wenig starrer werden, wenn der Wind mit Stimmen im Blattwerk spielt.

Sie kennt das Zucken der Hand zum Zeichen, das man nicht zeigen will. All die Jahre in engen Gassen und noch engeren Chorräumen lehren ein ähnliches Zittern. In ihrem Innern formt sich eine alte Tempelfloskel für Mut – kein Gebet, nur ein Satz, den man den Sterbenden in die Ohren blies, wenn sie noch einmal den Griff um den Speer fester schließen sollten. Sie beißt ihn sich auf die Zunge, lässt stattdessen ein schlichtes, irdisches Wort fallen.

„Haltet die Augen offen“, sagt sie, gerade laut genug, dass die Vordersten es hören. „Wo der Pfad enger wird, legen gern Leute Dinge, die man mit den Füßen findet, nicht mit den Augen.“

Einer der Jungen schnaubt. „Fallen gibt’s in der Stadt genug“, murrt er. „Hier draußen beißen höchstens Hasenschlingen.“

„Und Wurzeln“, fügt Bernulf trocken hinzu, froh um den Faden. „Frag Roda, wie sich so ein Stamm im Dunkeln anfühlt.“ Ein verlegenes Kichern huscht durch die Reihe; die Spannung löst sich ein wenig, wie ein zu straff gebundener Knoten, den man einen Fingerbreit nachgibt.

Doch der Wald hört ihr Lachen und schluckt es schnell. Das Grün um sie her wird dichter, die Stämme rücken näher zusammen, als arbeiteten sie sich unauffällig an die Menschen heran. Über ihren Köpfen schweigt ein großer Vogel, nur der Schatten seiner Schwingen gleitet kurz über Bernulfs Gesicht und den Rußrand an Sigerhilds Stirn. Hinter ihnen liegen schon Stunden Weg, doch wenn einer zurückblickt, sieht er nur Bäume, kein Tor, keine Stadt, keine klare Spur, die hinausführt.

Am Saum einer schmalen Kluft, die nur von ineinander verkrallten Wurzeln überspannt wird wie von einem vernarbten Seil, stockt der Zug. Unter ihnen gähnt kein rechter Abgrund, nur feuchter Schatten, doch das Moos an den Wänden glänzt schwarz, als hätte es alte Nässe und altes Blut gesogen. Auf der anderen Seite stehen drei Birken wie Wachen. Ihre Rinde hat sich in vollkommenen Ovalen gelöst, sauber abgehoben wie Masken; darunter liegt glatter, fast glänzender Schimmer, von feinen Spiralschnitten überzogen.

Sigerhilds Magen zieht sich zusammen. Sie kennt die Hand, die so schnitt: Feenzehnt, einst gefordert für jeden, der sicher durch solches Gehölz wollte. Blut, Haar, Atem – etwas hatte hier seinen Anteil genommen und eine Weile gehalten, was versprochen war.

Eines der kleineren Mädchen tritt näher, die Finger schon ausgestreckt nach der hellen Fläche. „Ist das ein gutes Zeichen, Frau Heilerin? Oder ein böses?“

Sigerhild fängt die Hand am Handgelenk, sanft, aber fest. „Es heißt, jemand ist diesen Weg gegangen und lebte noch, als er drüben ankam“, sagt sie ruhig. „Mehr verlangt der Wald nicht von uns heute.“

Sie treibt sie über den Wurzelsteg, Schritt für Schritt. Niemand stolpert, doch alle sehen zu den blanken Stellen hinüber, als könnten Augen darin aufblinzeln. Bernulf geht zuletzt, wirft einen flüchtigen Blick auf die Spiralen und presst unwillkürlich den Ring an seinem Handgelenk enger an die Haut, als fürchte er, ein fremder Schwur könne hineinkriechen.

Kaum sind sie hinüber, fällt hinter ihnen eine Handvoll Blätter lautlos von den Ästen, obgleich kein Wind geht. Die schmalen, braunen Zungen drehen sich langsam, als wählten sie jeden Tritt sorgsam aus, und legen sich dann über die frischen Abdrücke ihrer Sohlen. Innerhalb eines Atemzugs wirkt der Pfad, als sei er seit Tagen, vielleicht Wochen, unbetreten.

Wulf schaut zurück, die Stirn gerunzelt. „Ich seh unseren Weg nicht mehr“, murmelt er.

„Dann schau nicht zurück“, schneidet Bernulf ihm das Staunen ab, ohne sich umzuwenden. „Der Steig gehört denen, die vorwärts gehen.“

Sigerhild wirft einen letzten Blick auf die gezeichneten Birken. In den Spiralen scheint es kurz zu glimmen, als drehten sich Linien tiefer ins Holz hinab. Sie senkt den Kopf, als hätte sie nichts bemerkt, und folgt den anderen, ehe der Wald auf die Idee kommt, noch einen Preis zu fordern.

Am Abend, unter einer schief gewachsenen Buche, deren Äste bei jedem Luftzug ächzen wie müde Angeln, treibt Bernulf sie in einen Kreis. Mit der Schärfe eines Feldhauptmanns teilt er die Wachen ein, lässt jedes Kind Stunde und Reihenfolge laut wiederholen, bis selbst die Kleinsten mürrisch nicken. „Wer seine Zeit verschläft, zählt mir seinen Anteil ab“, sagt er; keiner fragt, ob er damit Münzen meint oder Haut.

Sigerhild kniet derweil beim dünnen Feuer, das unter den feuchten Zweigen nur bläulich glimmt. „Waldtrank gegen Fieber und Nachtfrösteln“, murmelt sie und zeigt getrocknete Blätter und Wurzeln in ihrer Handfläche. Niemand muss wissen, dass die Mischung ein alter Tempeltrank ist: Laues Schutzkraut, das nur wirkt, wenn man schweigt, während es zieht, und die Blicke meidet wie ein lügender Zeuge. Sie rührt mit einem Holzspan, stiehlt der Glut ein paar Funken und flüstert nichts, gar nichts – nur das leise Zählen ihres Atems.

Die Kinder trinken, verziehen die Gesichter über die Bitterkeit, rücken dann enger zusammen unter Flickdecken und Mänteln. Einer beginnt leise eine Gassenweise, doch der Wald verschluckt den Reim, ehe er ganz geworden ist. Nach und nach sinken sie weg, die Wachen halb sitzend, halb lehnend an Wurzelwülsten, Messer in Reichweite.

Sigerhild bleibt wach, den Rücken an die schiefe Buche gelehnt. Das Rauschen der Blätter über ihr kippt zuweilen in etwas, das wie Stimmen klingt: Verhandeln, Rechnen, leises Lachen ohne Wärme. Einmal fährt ein Laut durch die Zweige, ein kehliges Kichern, zu menschlich, zu nah. Ihr Nacken kribbelt, und sie spürt für einen Herzschlag lang die Oath-Halle vergangener Jahre, den Duft von Harz und heißem Eisen auf Altarstein.

Bernulf, der auf der ersten Wache hockt, den Ring zwischen Finger und Handballen drehend, hebt den Kopf. „Was?“, zischt er leise, mehr Boss als Junge. „Hast du was gesehen?“

Sie lässt ihre Schultern sacht sinken, zwingt den Blick vom Dunkel der Bäume zurück ins bleiche Feuerlicht. „Nur gedacht“, sagt sie und zieht eine schiefe Miene. „An einen alten Spruch, den man uns im Kloster erzählt hat. War wohl lustiger, als ich meinte.“ Sie zuckt mit dem Mundwinkel, als sei da wirklich ein Witz gewesen, und schaut rasch zu den Schlafenden. „Halt die Ohren offen, Bernulf. Der Wald erzählt lieber selbst, als dass er zuhört.“

Er schnauft, halb spöttisch, halb erleichtert, und richtet den Rücken. Doch als der Wind erneut auffährt und die Buche lang und klagend knarrt, rückt er näher an das kümmerliche Feuer, als wolle er nicht, dass der Schatten zwischen ihm und der Heilerin Platz findet.

Am nächsten Morgen streift ihr Zug eine seichte, moosige Senke, in deren Mitte stehende Steine einen schwarzen, stillen Tümpel von Schildbreite umringen. Bernulfs verwegenster Läufer schnalzt einen Kiesel über die Fläche; die Ringe laufen zu langsam, stoßen unwillig an die Ufer, als seien Spiegelbild und Wasser uneins über die Bewegung. Sigerhilds Nackenhaare richten sich, denn zwischen den Steinen liegt ein blasser Kranz aus zerfallenen Runen, kaum mehr als Kerben im Grün.

Bernulf aber spürt ein Ziehen in den Knochen, als riefe ihn jemand, mitten in den Kreis zu treten und seinen Namen zu sprechen – ein halberinnerter Nachhall von Hausriten, bei denen Männerknaben erstmals ihren Ring empfingen. Für einen Moment sieht er sich kleiner, im Hof eines Herrenhauses, die Finger seines Vaters schwer auf seiner Schulter. Dann brennt der Reif an seinem Handgelenk frostig auf, als beiße Kälte direkt ins Fleisch, und das Bild zerfällt.

Er schnaubt, stößt den Jungen mit gespielter Grobheit von den Steinen weg. „Genug geplätschert. Wer hier steht, holt sich nur Zecken und Schlangen in die Hosen“, knurrt er, laut genug für alle. Kichern flackert auf, erleichtert; die Kinder wenden sich ab. Nur Sigerhild wirft dem dunklen Wasser einen letzten Blick zu und bemerkt, dass die langsamen Wellen sich erst glätten, als Bernulf außer Reichweite ist.

In jener Nacht, als das Feuer nur noch wie eine kalte Zunge über verkohltem Holz leckt und die Atemzüge der Kinder mit dem Knarren der Äste verschmelzen, fährt Bernulf hoch, die Finger verkrampft um den Eisenreif, Metallgeschmack auf der Zunge, als hätte er darauf gebissen. Am Rand des Traums bleibt ihm eine Stimme, weich und zählend wie Ammenlied und Richtspruch zugleich: „Eins für das Mädchen mit den Fuchsaugen, eins für den Buben, der seine Furcht zum Handel macht, eins für den, der im Schlaf weint und schwört, es nicht zu tun …“ Jede Zahl schiebt sich einem Gesicht seiner Bande unter, als würden unsichtbare Finger Stirnen markieren. Er wendet sich schon zu Sigerhild, bereit, sie anzufauchen, ob dies ein Priestertrick sei – doch sie sitzt längst wach, starr wie ein eingerammter Pfahl, den Rücken an die schiefe Buche gepresst, den Blick auf einen Wurzelspalt geheftet, in dem die Dunkelheit dichter wirkt als ringsum.

„Der Wald fängt an, uns aufzuzählen“, knurrt Bernulf heiser, mehr Trotz als Frage. „Will uns wohl wieder umkehren sehen.“

„Gut“, sagt sie leise, ohne den Kopf zu wenden. „Dann hat er uns bemerkt.“ Ein Herzschlag vergeht, in dem die Stille anschwillt, als lausche etwas zwischen den Bäumen mit. „Halt sie morgen eng beieinander. Kein Strauchgang allein, keine Mutproben.“ Erst dann löst sie die Schultern, als streife sie ein unsichtbares Gewicht ab, und wirft ihm einen knappen Seitenblick zu. „Schlaf, Junge. Wer mitzählt, spielt nach eigenem Recht. Wir können nur dafür sorgen, dass er sich verzählt.“

Er legt sich widerwillig wieder hin, den Ring kalt und schwer wie ein fremder Fingerknochen an seinem Handgelenk. Lange, nachdem seine Lider sich schließen, scheint ihm, als husche die leise Stimme noch einmal an seinem Ohr vorbei, suche nach einem letzten Namen und finde doch keinen, der gut genug passt.

Als der letzte Rest Brühe von den Schalen geschlürft ist und das Eisen des Topfes leer über dem Feuer schrappt, zerfasert das Murmeln der Kinder zu vereinzeltem Gähnen. Die Kleinsten kippen, noch mit Löffeln in der Hand, seitlich in Decken und Mäntel. Bernulf hält sich nicht im Kreis. Er geht die Grenze des Lichtes ab, dort, wo der Feuerschein an Dornengestrüpp und Haselstämmen zerbricht und das Dunkel zurückweicht wie ein lauernder Hund.

Er bleibt immer wieder stehen, späht in die Schwarzräume zwischen den Sträuchern, wartet auf das winzige Falsch: ein zu glatter Schatten, ein Blatt, das sich ohne Wind rührt, der scharfe Geruch von fremdem Menschen. Nichts. Nur das dumpfe, feuchte Atmen des Waldbodens und das gelegentliche Rascheln einer Maus im Laub. Er hebt einen dürren Zweig auf, wirft ihn mit einer fahrigen Bewegung in die Glut.

Diesmal schießt keine bläuliche Flamme züngelnd die Rinde hinauf. Kein kaltes Aufflackern, das an Tempelrauch erinnert oder an Nächte, in denen etwas Unsichtbares den Funken nachstarrte. Es gibt nur ein schlichtes Knistern, rotes Glimmen, ein Funkenflug wie aus jeder Gassenfeuerstelle in Waldheim. Der Geruch ist Holz, nicht Eisen, nicht Blut.

Das banale Bild stößt ihn, als hätte ihn jemand angerempelt. Normal. Zu normal. Es ist, als wäre plötzlich eine Lücke in der Welt, ein Loch an der Stelle, wo sonst Drohung hängt. Bernulf spürt, wie ihm die Nackenhaare sich trotzdem sträuben. „Zu ruhig“, murmelt er, ohne es zu wollen.

Sein Blick streift über den Kreis. Sigerhild sitzt leicht abseits, Rücken gegen einen Wurzelbuckel, die Kapuze tief im Gesicht. Die Hände ruhen im Schoß, als bete sie, aber ihre Lippen bewegen sich kaum, nur ein Hauch von Laut, der ebenso gut ein leiser Fluch wie ein Hymnenrest sein könnte. Kein Zucken in ihren Schultern, kein abruptes Aufmerken, wie er es kennt, wenn etwas Unsauberes nahe ist.

Er merkt, wie sich ein schiefer Gedanke in ihm festsetzt: Wenn Gefahr wäre, müsste sie es fühlen. Ein Priesterherz schlägt doch anders, hört mehr. Stattdessen ist dies hier nur… Lagerfeuer, müde Kinder, ein Häuflein Diebe mit vollem Bauch. Fast wie irgendeine Bande auf irgendeinem Waldpfad.

Die Erkenntnis brennt ihm unangenehmer im Magen als jede Ahnung von Spuk. Er hatte sich, ohne es zu merken, auf Zeichen verlassen wollen: ein Knistern im Unterholz, ein kalter Hauch, ein Wort aus einer anderen Kehle als der ihren. Etwas, das ihm die Entscheidung abnähme, ob er weitergehen soll oder umkehren. Sogar ein Flüstern aus der Dunkelheit wäre leichter zu fassen als diese stille, formlos lauernde Möglichkeit, dass alles noch offen ist.

Er schnaubt leise, stößt mit der Stiefelspitze nach einem Ast, bis der ins Feuer rollt. „Feigling“, denkt er über sich und kann nicht sagen, ob er damit die Angst vor dem Unsichtbaren meint – oder die Sehnsucht nach einem Schicksalszeichen, das ihm sagt, wer er zu sein hat. Für einen Herzschlag lang wünscht er sich Donner, ein aufspringendes Wild, einen Ruf im Unterholz. Irgendetwas, das ihn aus der Pflicht nimmt, selbst zu entscheiden, ob er weiter Richtung Hallen geht.

Dann zwingt er die Schultern zurück, legt sich den alten Bosston wie ein Mantel über. „Alles gut“, knurrt er halblaut, mehr zu sich als zu den Kindern. „Ein Feuer ist ein Feuer. Mehr nicht.“ Aber seine Augen kehren immer wieder zu Sigerhilds gesenktem Kopf zurück, als suche er doch noch den kleinsten Riss in ihrer Ruhe, ein Zucken, das ihm bestätigen würde, dass auch sie findet: Dies ist nicht normal. Nur spricht der Wald es heute ausgerechnet nicht laut aus.

Eine der Kleinen – Sanna, das Lückenzahn-Mädchen, das noch lacht wie jemand, dem die Welt den Biss erst verspricht statt schon genommen hat – schleicht sich zu Sigerhild, als das Gerede am Feuer dünner wird. In der Faust hält sie einen schmalen Lederstreifen und ein Stück helles Knochen, sauber abgeschabt. „Heckenweib“, zischt sie verschwörerisch, gerade laut genug, dass zwei der Jungen kichern, „kannst du das segnen? Dass einer sitzen bleibt, wenn ich ihm eine gebe.“

Sigerhild nimmt ihr die Dinge ab, das Leder trocken und warm von Kinderhand, der Knochen glatt wie alter Altarstein. Sie spürt Bernulfs Blick im Nacken, schwer wie ein zweiter Ring. „Segnen, hm?“ murmelt sie, mehr zu den Schatten als zu Sanna. Kein echter Schlagzauber, nicht hier, nicht für diese schmalen Finger.

Sie knotet das Leder langsam, spricht dabei eine alte, abgenutzte Reimerei, die ihre Großmutter Mädchen murmelte, die vor Dunkelheit zitterten: ein Lied von Standhalten und Heimfinden, voller Bilder von Hausdächern und Herdglut. In den Knochen ritzt sie mit dem Messerspitzennagel ein paar gekrümmte Linien, nur halbähnlich den wahren Stäben für Kraft und Mut, Kratzspuren, die einem ungeübten Auge wie Runen vorkommen.

„Da“, sagt sie schließlich und bindet das Band um Sannas Handgelenk, den Knochen nach innen gedreht. „Wenn du ihn trägst, denk daran: Die Hand, die du hebst, gehört erst dir. Nicht dem Zorn vom anderen.“ Ihre Stimme ist weich, doch im Hals liegt ein Dorn.

Sanna strahlt, als hätte sie Silber bekommen, und marschiert mit übergroßem Ernst einmal um das Feuer, die Faust prüfend ballend. Die anderen starren ehrfurchtsvoll auf das neue „Stück“. Sigerhild zwingt ihren Mund zu einem schmalen Lächeln. Die Lüge schmeckt dumpf wie kalte Asche, aber sie redet sich ein, dass dies eine milde Sorte Betrug sei: kein Fluch, der bindet, nur ein bisschen gemalter Mut auf dünner Haut. Bernulfs Blick brennt noch einen Atemzug länger, dann wendet auch er sich ab, als hätte er beschlossen, heute nicht zu fragen, welche Götter sie wirklich ruft.

Als die Kinder sich endlich unter geflickten Mänteln zusammenrollen, sinken sie in jenes blinde Vertrauen, das aus Wärme und Erschöpfung wächst, nicht aus Glauben an morgen. Bernulf legt sich zuletzt, schiebt sich mit geübter Vorsicht zwischen Ellenbogen und Knie, so dass er keinen der blauen Flecken trifft, die er kennt wie seine eigenen. Wo einer noch im Schlaf zuckt, legt er automatisch eine Hand an die Schulter, drückt sie fest auf die Decke, nicht auf die Haut.

Den Eisenreif schiebt er vom Handgelenk in die hohle Handfläche, versteckt ihn zwischen sich und dem Boden, als sei er nur ein kalter Stein. Im ehrlichen, rußigen Orange des Feuers werden ihre Narben zu gewöhnlichen Schrammen, die Gesichter zu Dorfkindern, die zufällig hier gelandet sind. Für einige Atemzüge erlaubt er sich, diese Lüge zu glauben – dass sie morgen heimgehen, nicht tiefer in einen Wald, der Namen zählt und Schulden merkt.

Ein wenig abseits des schlafenden Haufens lässt Sigerhild die letzten gemurmelten Silben der Hymne über die Zunge gleiten und verstummen, überrascht, dass das Amen sich eher anfühlt wie ein zugeschlagenes Tor als wie eine geöffnete Pforte. Kein leises Brennen im Nacken, kein süßer Druck hinter den Augen: keine Spur von Gott, kein Flirren von Hof oder Hallen. Nur das ruhige Schlagen des nächtlichen Waldes, das dünne Kratzen von Bernulfs Atem, der schwerer wird, je tiefer er in den Schlaf fällt. Ihre Finger tasten unwillkürlich zu den vernarbten Rillen unter Ruß und Kohle, verweilen kurz, als wollten sie zählen, und krallen sich dann zur Faust auf dem Knie. Wenn die Alten schauen, verbergen sie ihr Antlitz; wenn sie nicht mehr hinschauen, dann gehört der Weg, der vor ihnen liegt, nur noch Menschenwort und Messerrecht – ein Gedanke, der sie zugleich erleichtert und frösteln lässt, als hätte jemand die Götter aus der Rechnung gestrichen und dafür nur nackte Schuld zurückgelassen.

Die Nacht geht vorüber wie ein fremder Atemzug: ohne Flüstern, das aus den Blättern zählt, ohne Traumbilder, die mit Krallen an den Lidern hängen bleiben, nur das langsame Kippen der Sterne hinter kahlen Zweigen. Als erstes Grauen in die Mulde sickert, hat Reif feine Netze über Mäntel und Topfrand gezogen. Einer flucht leise über steife Finger, nicht über Ungeheuer im Dunkeln. Beim Auffächern der glimmenden Kohlen zu bloßer Asche, beim hastigen Erdeauftreten über der letzten Wärme, nennt keiner diesen Platz anders als all die übrigen Rastlöcher. Und doch liegt eine ungewohnte Leichtigkeit in ihren Bewegungen, als hätten sie unbemerkt etwas abgestreift. Es ist das letzte Morgenlicht, das sie ohne das volle Gewicht dessen, was im Waldherz lauert, auf ihren Worten spüren.

Die Mulde schließt sich hinter ihnen mit dem leisen Schaben von Stiefeln auf gefrorenem Laubmulm, und schon während sie sich herausarbeiten, verrinnen ihre Trittspuren, vom ersten Atem eines Windhauchs verwischt, der von den höheren Ästen herabfällt. Der Boden wirkt nicht, als ließen sie ihn zurück, sondern als spucke er sie aus.

Sigerhild hält nur so lange inne, dass sie den Kopf einmal wendet – ein kurzer Blick über die Schulter, nicht mehr. Der Fleck zertretener Asche, der niedrige Ring aus Steinen, halb im Reif versunken, sehen aus wie jede Feuerstelle irgendeines Durchzugstrupps. Und doch zieht es ihr beim Anblick einen dünnen Faden aus der Brust: das kleine, schäbige Troststück der letzten Jahre gleitet ihr von den Schultern wie ein abgetragener Mantel. Das Leben der harm-losen Segenssprüche für schmerzende Gelenke, der Kräuterauflagen und verdünnten Tinkturen, die man für Kupferstück und Klatsch verkauft, löst sich auf in der klaren Kälte. Es war ein armseliger Friede, genährt von halben Wahrheiten und vorsichtigen Lügen, und sie merkt jetzt, wie sehr sie sich an ihn geklammert hat.

Vor ihr atmet der Jägersteig aus dem Schatten der Fichten heraus, ein schmaler Zug, den nur Leute kennen, die besser schweigen als reden. Zwischen der Nässe von Erde und Moder hängt ein anderer Geruch, fern und dünn wie ein fast vergessenes Lied: altes Harz, verbrannt in Opferpfannen, und der scharfe Stich von Eisen, das nicht zu Pflugscharen, sondern zu Ringen und Klingen geschmiedet wurde. Sie weiß, noch ehe sie den ersten Schritt hinauf tut, dass jenseits dieses Pfades jedes Wort Gewicht tragen wird, das sich nicht abschütteln lässt wie Rauch.

Ihre Zunge probt stumm die vertrauten Notlügen – das Sammeln von Rinden, die Rede von einer kranken Base im nächsten Dorf –, und sie schmecken plötzlich bitter, als hätte jemand Ruß unter den Honig gerührt. Von hier an, denkt sie, wird jede Lüge mehr kosten als ein paar Münzen oder ein wohlgesinnter Blick. In einem Wald, der Namen zählt und Schulden merkt, zahlt man nicht mit Geld, sondern mit Blut, Atem und Erinnerung. Hinter ihr verwischt der Reif den letzten Rest des harmlosen Lebens; vor ihr legt der Pfad sich schmal und zielstrebig in die Tiefe, wie eine Linie, die jemand mit ruhiger Hand zu einem Altar gezogen hat.

Sie reiht sich ein, als der Jägersteig sich zwischen den Stämmen verengt, und zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht, bis der Rand fast die Nasenspitze streift. Die Fingerspitzen streifen den Rußfilm, der sich über die blassen Rillen an Stirn und Schläfen legt. Einst war diese kleine Geste, das Nachfahren der Linien und das Zudecken mit Schmutz, wie ein stilles Gebet gewesen – ein Versprechen, dass niemand mehr die Zeichen der geweihten Klinge erkennen sollte, die sie zur Priesterin gemacht hatte. Heute beruhigt es sie nicht. In diesem Wald fühlen sich die Narben nicht mehr an wie Schande, die man vor Menschenaugen verbirgt, sondern wie Brandmale, die in einer anderen Schrift glühen, lesbar für etwas, das weder Sicht noch Fackel braucht.

Die Inquisitoren werden ihr mit Gerüchten und dem Geruch verbotener Riten im Nacken folgen, die Städter mit Geschichten von einer entwichenen Eidspriesterin, die einem Kind einen Ring angelegt hat, den kein ehrbarer Altar segnete. Die Hohe von Eichenkrone aber wird keiner Kunde bedürfen. Jenseits einer Grenze, die kein Stein markiert, wird der verfallene Hof sie erkennen wie ein Hund das Blut an der Klinge: er wird kosten, was sie gelobt und gebrochen hat, ohne dass sie ein Wort spricht. Jeder falsche Segen, jede bezahlte Lüge, jeder Schwur, den sie gegen Silber verkauft und dann mit Messerrecht verraten hat – all das hängt jetzt wie kalter Rauch an ihr. Der Gedanke, dass der Hallenrest vor ihnen nicht nach Namen, sondern nach wahrer Bindung fragt, lässt sie den Schritt kürzer setzen, doch der Pfad kennt kein Zurück.

Bernulf hält den halben Schritt Vorsprung wie eine kleine Mauer aus Knochen und Trotz, als ginge der Pfad von seinem Willen aus und nicht von altem Waldwerk. Wenn die Jungen zu dicht aufrücken, schneidet seine Stimme scharf durch das Dämmerlicht; wenn einer zurückfällt, fliegen die Worte hart und kurz: Spitznamen wie Prügel, Drohungen von gekürztem Anteil, von leerer Schüssel am Feuer. Das Reden fällt ihm so leicht wie Atmen, geformt in Hinterhöfen, Schenkenwinkeln und Schlupflöchern, wo sein „Ich sage“ über Essen oder Schläge entschied.

Doch während er einen Burschen anfaucht, der den Nebenmann anrempelt, sucht der Daumen immer wieder den umwickelten Eisenreif. Unter Leder und Rune fühlt das Metall heute schwerer, spröder, als hätte der Ring selbst begriffen, dass die Ordnung, die Bernulf aus Angst, Hunger und halben Versprechen gezimmert hat, hier brüchig wird. Es ist, als laufe er vor einer Tür her, hinter der ein anderes Gesetz wartet – eines, das nicht fragt, wie gut er Befehle gibt, sondern wessen Blut wirklich am Schwur klebt. Bei jedem Schritt längs des Jägersteigs wächst in ihm die dumpfe Gewissheit, dass sein Titel „Boss“ im Schatten von Eichenkrone nicht mehr sein wird als das Gekrähe eines Gassenhuhns vor einem alten Richtblock.

Die Läufer treiben in lockeren Knäueln den Steig hinab, mehr ein zerlumpter Schwarm als eingespielte Rotte, ihr Gerede ein dünner Faden im gedämpften Schweigen des Gehölzes. Prahleien huschen hin und her, was sie wohl aus einer „Albenhalle“ tragen werden; ob Feenwein süßer sei als das verwässerte Schankbier, das sie kennen. Sie handeln Anteile an noch ungeborener Beute aus: eine zusätzliche Decke, falls dort Felle liegen; ein halber Leib Brot, falls ein Tisch gedeckt ist; das erste Zugriffsrecht auf irgendwelche Kleinode, wenn nur einer für die andern Wache hält. Einer schwört, nie mehr einen Freund zurückzulassen, ein anderer, immer zu teilen, solange ihm selbst noch ein Bissen bleibt. Die Schwüre kullern ihnen von der Zunge wie immer in Kellern und Kulvertlöchern, leichte Münzen aus Luft und Atem – Versprechen ohne Gewicht, die bisher höchstens ein paar blaue Flecken oder gekränkten Stolz kosteten.

Der Wald beantwortet diese kleinen Eide mit einem kaum merklichen Anziehen seines Schweigens; die Zweige schließen sich dichter, bis der Himmel nur noch wie ein schmaler, steinerner Ritz über ihnen steht. Fern, jenseits ihrer Blicke, verknoten und verhaken sich die Kraftadern der Erde zum gefallenen Hof hin, ziehen ihren Schritt wie Schulden an, die fällig werden. Keines der Kinder bemerkt, wie die Luft merklich kühler wird, sobald eines ein „immer“ oder „nie“ in den Dunst wirft, wie ihr Atem plötzlich schärfer vor den Mündern steht, weißer Rauch vor unsichtbaren Altären. Nur Sigerhild und Bernulf spüren im dumpfen Ziehen an Narbe und Eisenreif, dass sie längst im äußersten Hofbezirk einer Macht stehen, der es gleich ist, ob ein Wort aus Not oder Übermut gesprochen wird. Wenn hier Unheil beginnt, wird es nicht mit gezogenen Klingen heben, sondern mit einem Satz, der, einmal gesagt, nirgends mehr zurückgenommen werden kann.


Threshold of the Fallen Hall

Das Wort „verhungern“ hängt noch zwischen ihnen, dünn und scharf wie Wintereis, als ob die Luft sich nicht traue, es ganz zu schlucken. Dann scheint die Halle selbst einen Atem zu nehmen.

Die Blätter im Gewölbe aus Eichenkronen erstarren, als hätte eine unsichtbare Hand sie gepackt. Das ferne Rauschen des äußeren Waldes bricht ab, nicht allmählich, sondern wie ein Seil, das reißt. Es ist, als wäre jenseits der lebenden Bögen die Welt in einem anderen Schlag weitergegangen, doch hier innen hält etwas alles fest. Ein einziges Blatt löst sich, taumelt lautlos hinab und bleibt, kurz bevor es den schwarzen Spiegel eines versiegten Beckens berührt, in der Luft hängen, von einem Hauch Glamour getragen.

Die Silberadern im Oath-Stein schlagen auf wie ein aufgerissener Blick. Ein fahles, kaltes Licht fährt durch den Saal, ohne Wärme, aber mit Gewicht, wirft lange, verzerrte Schatten an die geborstenen Säulen und halb überwachsenen Runensteine. Für einen Herzschlag lang stehen da nicht nur die Schatten von Sigerhild, Bernulf und den Kindern, sondern andere Gestalten dahinter: breitgeschulterte Männer mit Wolfsfellen über den Schultern, Frauen mit Speer und Messerketten, Schilde mit verblassenden Wappen, Hörner in unsichtbaren Händen. Ihre Konturen flimmern im bleichen Schein, als wollten alte Eidschwörer noch einmal Platz nehmen in der Runde, um zu hören, wer da ihr Recht anruft.

Sigerhild spürt das Kippen der Welt zuerst im Magen, ein dumpfes Ziehen, wie kurz vor einem Sturz. Die feinen Narben an ihren Schläfen beginnen zu kribbeln, heiß unter der Schicht aus Ruß und Khol, als ob unsichtbare Finger die alten Schnittlinien nachfuhren. In dem trockenen Geruch von Stein und Moos taucht plötzlich etwas Metallisches auf, Blut und kaltes Eisen, und darunter der süße Rest von Weihrauch, wie aus längst verloschenen Rauchpfannen.

„Bei den alten Namen…“ entfährt es ihr fast, doch sie beißt die Worte ab, bevor sie Form gewinnen. Namen sind Verträge in solchen Orten, und dieser Saal ist wach.

Die Kinder, die im Bogen des Eingangs stocken, rücken unwillkürlich näher zusammen. Einer der Kleineren schiebt sich an Bernulfs Rücken, sucht Schatten hinter der abgetragenen, doch ehrfürdig geflickten Mantelkante. Keiner von ihnen redet; selbst Keuchen und hastige Atemzüge kommen nur bruchstückhaft, abgerissen, als hätten die eigenen Lungen Scheu vor einem Laut.

Hoch über ihnen, wo lebendes Holz in gebrochene Steinbögen wächst, fließt das fahle Licht in die eingeritzten Runen. Linien, die eben noch tot und bemoost wirkten, beginnen zu glimmen, nicht alle, aber jene, die vom Noth – vom Zwang – und vom Gebo – vom Tausch und Bund – erzählen. Sie wechseln träge, als suchten sie nach einem passenden Laut, einer passenden Absicht, die sie an sich binden könnten. In dem Flackern scheinen die alten Zeichen den Jungen und der Frau Gesichter zuzuwenden, forschend, lauernd, wie eine Runde alter Richter, die in einem dunklen Thing-Gebäude die Neue eintreten sehen.

Der Saal lauscht. Kein Vogelruf, kein Rascheln von Mäusen im Unterholz, nur der leise, stetige Blattsingsang, der jetzt deutlicher wird: ein Gestreite von Flüsterstimmen, zu fern zum Verstehen, doch nah genug, dass jeder Knochen spürt, worum es geht – um Preis und Gegengabe, um Hunger und Sättigung, um das, was festgehalten wird und das, was man preisgibt, wenn man solche Worte im Ring der Eichen spricht.

Bernulf krümmt sich zusammen wie unter einem unsichtbaren Hieb, ein gepresster Laut fährt ihm aus der Kehle, halb Fluch, halb Würgen. Der Eisenreif um sein Handgelenk bleibt äußerlich stumpf und dunkel, doch von innen her wird er glühend; ein brennender Ring aus Zwang, der sich in Fleisch und Knochen frisst. Unter der umwickelten Leder- und Schnurwicklung springen die eingekerbten Zeichen nacheinander an, erst rußig-rot, dann im selben fahlen Weiß wie die Adern im Stein, als ob der Oath-Stein selbst die Runen im Kinderschmuck nachzeichne.

Um ihn her, in der Streuung eines kleinen, schlecht geordneten Haufens, reißen seine Vertrauten zusammen. Hände fahren instinktiv zu billigen Gelöbnisschnüren, zu geschnitzten Holztalern mit eingeritzten Zeichen, zu Knochenamuletten, die irgendein Gassenpriester ihnen einst „gebunden“ hat. Man sieht keine Seile, keine Fesseln – doch etwas unsichtbar Gespanntes schnellt zwischen ihnen und dem Jungen in der Mitte straff, wie frisch gezogene Stricke. Jeder Atemzug wird kurz, hakig; Kehlen arbeiten gegen Druck, Augen treten vor, als habe jeder ein dünnes, kaltes Band um den Hals, das sich mit Bernulfs Schwur zuzieht.

Sigerhilds Hand ist schon an seiner Schulter, bevor ihr Verstand nachkommt, die Finger fest in den dünnen Wollstoff gekrallt. „Fried… und Schatten… über euch unter diesen Kronen, “ setzt sie an, die vertraute Formel eines harmlosen Waldsegens, den man sonst über Jäger und Neugeborene murmelt. Doch kaum trägt die Luft die ersten Silben, biegt der Saal sie um.

Die Worte gehen ihr aus dem Mund und kehren verändert zurück, vervielfacht. Aus den Eichenwölbungen, aus den Ritzen der Steine, aus den toten Wasserbecken antwortet ihr eigener Tonfall in rauem Althochdeutsch, in knorrigem Dialekt der Flusstäler, in fremden, längst verschluckten Stammeszungen. Die Litanei legt sich schichtweise übereinander, bis aus dem Segensspruch ein dröhnendes Einverständnis wird – kein Trost, sondern ein Siegel.

Die Halle sagt „Ja“ zu jedem Laut, den sie formt, und dieses Ja hat Zähne. Druck baut sich in Brust und Rachen, als lege sich eine schwere Hand um ihren Kehlkopf. Jeder Atemzug kostet Mühe; die Formel will weiter, will vollständig werden, und mit ihr alles, was je halb versprochen wurde. Um sie herum fahren Kinderköpfe hoch, als risse etwas in ihrem Inneren auf. Vergessene, halb dahingesagte Schwüre – „Ich komm zurück“, „Ich nehm’ nichts ohne zu zahlen“, „Ich halt’ den Mund, egal was sie tun“ – steigen wie Erbrochenes aus den Tiefen der Erinnerung empor, gezerrt von der mehrstimmigen Liturgie, die aus einem milden Waldsegen einen Vertrag macht, der keinen Widerspruch kennt.

Erst dumpf, dann schneidend treten die achtlos dahingesagten Schwüre der Kindheit hervor – „Ich renn nie weg“, „Ich nehm immer zuletzt“, „Eher sterb ich, als euch zu verraten“ – und schlagen als glühende Zeichen in die Luft, fahren wie Brandmale an unsichtbaren Kraftlinien entlang, die sich zwischen Oath-Stein und dünnen Körpern spannen. Knie sacken in das feuchte Moos, Finger krallen ins Nichts, Nasen und Ohren beginnen zu bluten; einer erbricht stumm Galle, ein anderes Kind stößt nur noch ein dünnes, pfeifendes Wimmern aus, als würde ihm die Stimme herausgeschält. Mit jedem rasselnden Atemzug fährt der Ruck eines neu festgezurrten Versprechens durch die kleine Schar. Über ihren gebeugten Rücken flackern die Hallen­runen unruhig, als säße eine unsichtbare Menge in den Schattenreihen und beuge sich gierig vor, um jeden besiegelten Eid mitzuzählen.

Im Nachhall dieses unsichtbaren Schlages fährt eine jähe, grelle Klarheit durch den Gefallenen Saal. Morsch gewordene Banner straffen sich zu gespenstischer Farbe, Wappentiere blinken für einen Herzschlag in altem Gold und Blutrot auf, ehe sie wieder zu schwarzem Moder zerfallen. Die zerborstenen Throne stehen plötzlich ganz, besetzt von schattenhaft Gerüsteten und verschleierten Gestalten, deren Blick wie kalte Klingen über die Kinder streicht. Der Boden bäumt sich, als atme etwas darunter auf; Moos und Stein geraten ins Wanken, schmale Leiber werden wie Spielzeug umgeworfen, und aus der Basis des Oath-Steins schießen feine Risse strahlenförmig hinaus, als würde ein Spinnennetz aus Zwang in die Tiefe der Halle eingeritzt. Ein Laut erklingt – nicht laut, eher wie das ferne Knacken eines Astes unter zu großer Last –, und mit ihm senkt sich das neue Gewebe der erzwungenen Schwüre. Die Spannung entlädt sich nicht, sie setzt sich: eine unsichtbare, festgezurrte Last, die auf schmächtigen Schultern ruht. Zurück bleibt ein knäulig zusammengerissener Haufen halberstickter Gassenkinder und eine taumelnde Priesterin, deren Atem pfeift, im Mittelpunkt einer Halle, die sie nun endgültig bemerkt hat und ihr Urteil noch nicht gesprochen.

Risse in den Platten reißen weiter auf, erst wie feine Trockenrisse im Sommerboden, dann wie gähnende Mäuler; ganze Flaggen aus Stein kippen um einen Fingerbreit gegeneinander, so dass Stufen zu schiefen Kanten und Mulden werden. Ein langsames, mahlendes Drehen geht durch den Saal, als würde jemand tief unter ihnen an einem ungeheuren Rad ziehen. Der Klang ist dumpf und dennoch durch Mark und Bein spürbar, ein fernes Zähneknirschen von Fels auf Fels. Sigerhild spürt das Vibrieren bis in die Füllungen alter Narben; Staub rieselt von den hohen Eichenwölbungen herab und legt sich trocken auf Zunge und Gaumen.

Zwischen den Fugen der Steine quellen erst dünne, tastende Wurzelfasern hervor, dann dickere Stränge, als hätte der Boden selbst genug von seiner Gefasstheit. Die lebenden Wurzeln fahren ruckartig empor, reißen sich aus der dunklen Erde darunter los und schlagen blind durch die Luft, blass und erdbeschmiert wie nackte Adern. Sie fahren gegen halb gestürzte Säulen, die ohnehin schon nur auf Gnade standen; ein peitschender Aufprall, und ein ganzer Pfeiler kippt nach, schert an seinem Fuß aus dem Mörtel, bricht in zwei Segmente und kracht in die Tiefe.

Bernulf hört die Kinder schreien, bevor er sie sieht. Splitter aus bleichem Stein regnen nieder, teils nicht größer als Fingernägel, teils faustgroße Brocken, die im Fallen Kanten und Runen verlieren. Die Luft füllt sich mit scharfem, beißendem Staub, der wie Kreidesand in Augen und Lungen schneidet. Ein Mädchen, das eben noch auf allen vieren keuchte, wird von einer herabstürzenden Laibung am Rücken gestreift und stürzt flach hin; ein anderer Junge stolpert, als der Boden unter seinem Fuß plötzlich nachgibt, und verschwindet fast in einem neu aufklaffenden Spalt, nur noch an seinem Handgelenk von einem Gefährten gehalten.

Über ihnen knacken die lebenden Eichenbögen, doch statt zu brechen, drehen sie sich mit, als folgten sie bereitwillig der neuen Schieflage. Ihre Äste stoßen gegeneinander, Blätter rascheln in einem tonlosen Sturm, und wieder fahren Wurzeln aus den Seitenwänden, tasten über verwehte Reliefs früherer Gelöbnisse hinweg und schlagen an Stein, Fleisch, Eisen. Wo sie die Ränder des Oath-Steins berühren, zucken sie zurück wie verbrannt, kringeln sich, wachsen im selben Atemzug weiter und suchen andere Bahnen; das ganze Geflecht des Hallenbodens scheint sich zu lösen und neu zu spannen, als wolle es die Versammelten fester packen.

Einer der kleineren, längst schwarz gewordenen Spiegelteiche zuckt, als hätte man ihm einen Dolch in die Tiefe gestoßen. Die gläserne Oberfläche wölbt sich bauchig nach oben, hält einen Herzschlag lang wie ein atmender Rücken – dann zerreißt sie mit einem nassen Krachen. Pechschwarzes Wasser schießt hervor, nicht mehr träge und faul, sondern mit der Wucht eines losgerissenen Mühlwehrs. Die Woge rast über den geborstenen Boden, fegt dünne Beine unter sich weg, schleudert Kinder wie Laub zwischen zerbrochene Platten.

Einer der Jungen schlägt hart mit der Schulter gegen eine schiefe Stufe, dreht sich halb in der Strömung, japst nach Luft und bekommt nur den kühlen, modrigen Geschmack des Wassers in Mund und Nase. Ein anderer prallt mit dem Kopf an einen heraustretenden Wurzelknorren und verschwindet fast gänzlich in der schäumenden Schwärze, nur das Aufblitzen seiner Hand, die verzweifelt nach Halt tastet, bleibt einen Atemzug lang sichtbar.

Die Flut schießt durch Seitenbögen, verwandelt schmale Ausgänge in glitschige, knöcheltiefe Sümpfe aus Schlamm und brackigem Spiegelwasser. Jeder Weg hinaus, den ein geübtes Straßenkind instinktiv wählen würde, wird in derselben Bewegung erst sichtbar – ein dunkler Gang, ein Spalt zwischen Säulen – und sofort wieder verschluckt von dem schwarzen Schwall, der sich an Fugen und Schwellen festsetzt wie lebendiger Morast. Wo das Wasser an Runen und alten Opfermulden leckt, glimmt es einen Augenblick bläulich auf, als dächten die Spiegel der Halle ihre uralten Bilder zurück und wollten nun niemanden mehr fortlassen, der sie einmal berührt hat.

Morsch gewordene Banner zucken auf wie von unsichtbaren Händen gerissen und schlagen in einem letzten Aufflammen fauliger Pracht aus. Wappentiere und fremde Fey-Zeichen steigen daraus empor, nicht recht Gestalt, nicht recht Rauch, Maul und Klauen zu lautlosem Brüllen verzerrt, ehe sie in Wolken aus stechenden, gluthellen Schuppen zerplatzen. Die funkelnden Flocken fahren wie ein Insektenschwarm durch den Saal, setzen sich brennend auf Haut und Lidern, kriechen in Kragen und Haare. Kinder schlagen mit den Armen um sich, die Augen zusammengekniffen, hustend, keuchend; jeder Tritt wird zur blinden Flucht. Einer rennt schreiend gegen eine kippende Säule, ein anderes Kind stürzt über einen plötzlich aufragenden Wurzelbuckel, und die lose Schar reißt auseinander, zerrissen in wirre Richtungen, hin zu jedem dunklen Durchgang, der wie Rettung scheint.

Die kolossalen Eichen der Außenbögen stöhnen und winden sich, ihre verflochtenen Kronen knoten sich zu neuen, labyrinthischen Gewölben. Hirschwechsel, die eben noch als sichere Linien zurück in den Wald lesbar waren, falten sich ein wie eingerollte Pergamente, verschwinden und tauchen als fremde Gänge wieder auf, in deren Schatten ein fahles, verführerisches Funkeln liegt, das einzelne der panisch fliehenden Kinder aus dem Kreis hinaus und tiefer zwischen die Stämme lockt.

Als das letzte Zittern im Gebälk der Halle verendet, schlägt die Stille zurück wie eine zugeschnellte Tür. Der schwarze Schwall sackt in Rinnsale und Pfützen, doch die Schreie schwimmen nur noch fern und richtungslos im Dunkel. Zwischen Sigerhild und Bernulf stehen nur eine Handvoll triefender Gestalten; die übrigen sind in den wuchernden Bögen und wegknickenden Gängen verschluckt, als hätte der Ort sie eingeatmet.

Sigerhilds Finger fahren wie von selbst über die Luft, als zähle sie Runensteine im Staub eines Altars. Eins, zwei, drei – ihr Blick streift hastig von Gesicht zu Gesicht, bleibt nirgends länger haften, als unbedingt nötig. Vier. Fünf. Ein tropfnasser Bub mit aufgerissener Lippe, die vor Schock nicht blutet, starrt sie an, als hätte sie eine Antwort. Sechs.

Nicht mehr.

Der Rest ist nur Lärm in ihrem Kopf: die Stimmen, die eben noch den Saal füllten, schrumpfen in der Erinnerung zu einem kurz auflodernden Chor, dann reißt etwas, und es bleibt der matte Nachhall wie nach einem fehlgeschlagenen Gebet. Ihr Magen zieht sich zusammen, ein kaltes, hartes Knäuel unter den Rippen. Die Hälfte. Mehr als die Hälfte seiner Läufer – fort, zwischen einem Herzschlag und dem nächsten von diesen verschlungenen Stämmen und eingestürzten Bögen hinabgewürgt wie Opferfleisch.

„Sechs“, murmelt sie, kaum hörbar, als müsse das Wort der Welt mitteilen, was fehlt. Es klingt jämmerlich klein in der drückenden Stille. Die Kinder um den Stein zucken zusammen, nicht wegen der Zahl, sondern wegen der Stimme – Priesterlaut, selbst im Flüstern unverkennbar. Sie beißen sich auf die Lippen, senken die Blicke, als warteten sie auf einen Spruch, der das Unsagbare rechtfertigt.

Sigerhild zwingt die Zunge hinter die Zähne. Kein Trost, der hier leichtfertig gesprochen wird, bleibt ohne Gewicht. Jeder Satz könnte sich im Stein verhaken, zu einer weiteren Schlinge im unsichtbaren Geflecht werden, das sie alle bereits würgt.

Ihr Blick huscht zu den Dunkeln, aus denen eben noch Kinderarme tastend nach Halt griffen. Dort regt sich nichts mehr, nur dieses schmierige Glitzern, das in Pfützen und Ritzen sitzt wie schlecht ausgewaschene Opferasche. Die Halle hat geatmet, denkt sie dumpf. Einatmen, ausatmen. Und mit dem letzten Zug haben die Eichen sich die Kleinen aus den Händen gerissen.

Sie kennt das Zählen nach einem Überfall, nach einem gescheiterten Schwur, wenn die Waffen sinken und die Toten noch nicht starr sind. Damals war sie die, die Namen abschritt, nicht Gesichter; Listen, keine Blicke. Hier gibt es keine Liste. Nur diese sechs, nass, verdreckt, an den Stein geklammert wie an einen gestrandeten Felsen. Und die Abwesenheit der anderen, schwerer als jeder Leichnam, den man bergen könnte.

„Bleibt dicht am Stein“, sagt sie schließlich, die Worte sorgfältig aufrauend, damit sie wie bloßer Befehl klingen und nicht wie Verheißung. „Kein Schritt hinaus aus dem Kreis. Nicht, bis ich sage.“ Sie schaut auf den silbergeäderten Block zu ihren Füßen, auf die Runen, die noch immer leise glimmen vom eben geschlagenen Schwur. In ihrem Innern hebt sich etwas wie Übelkeit: Jeder Befehl ist hier ein Versprechen, jeder Versprecher könnte zu Eisen werden.

Sie hebt den Kopf, trifft Bernulfs Blick nur kurz – genug, um in seinen Augen dasselbe stumme Rechnen zu sehen, dasselbe Fehlen. Dann wendet sie sich wieder den Schattenbögen zu und zählt noch einmal, diesmal schweigend, als könnte eine neue Zahl die alten auslöschen.

Bernulf reißt den Arm herum, als könne er sie mit nacktem Willen zurückzerren; das Eisen beißt ihm scharf in die Haut, dass die runengekerbten Schnüre sich tiefer in das dünne Fleisch graben. Ein dumpfes Dröhnen geht durch den Ring, den Knochen entlang bis in die Schultern – das Nachbeben des eben geschlagenen Schwurs, warm und schwer wie Fieber. Er wartet auf das gewohnte Echo: das unsichtbare Rucken in der Luft, wenn seine Läufer, irgendwo draußen, unwillkürlich den Kopf heben, den Rücken straffen, wenn die Bindung sie packt und in die Spur zwingt.

Nichts.

Nur ein flaues Schwindeln, als hätte jemand die Knoten des Eides ins Leere geknüpft. Das Ohr lauscht ins Dunkel, aber da ist kein flüsternder Widerhall der Jungen und Mädchen, kein kaum wahrnehmbares Klicken im Ring, wenn einer von ihnen sich widersetzt. Stattdessen kriecht die Erkenntnis in ihm hoch wie Übelkeit: Sie hängen nun alle an einem Versprechen, das in diesem Stein verankert ist, nicht in seiner Hand. Gebunden an Worte, die er nicht bis zu ihnen hin tragen kann, und an einen Willen, der hier größer ist als der seine.

Sigerhild geht in die Hocke, dann tiefer, bis ein Knie hart auf den Stein schlägt. Der Stoß fährt ihr durch den Oberschenkel, erdet sie. Mit gespreizten Fingern tastet sie über die kalten Platten, sucht Fugen, Kerben, jede Unregelmäßigkeit. Stattdessen findet sie nur diesen alten, glatten Zug, als hätte jahrhundertelanges Knien alle Kanten aus dem Boden geschliffen.

Sie atmet flach durch die Zähne und lässt die Lider sinken. Kein Wort, nur ein heiseres Murmeln unter dem Atem, ein Rest von Tempeltechnik, den sie eigentlich nie wieder anfassen wollte. Kein Gebet – ein Lauschen. „Zeig mir den Tritt, nicht das Blut“, fährt es ihr stumm über die Lippen.

Etwas antwortet.

Kein Klang, eher ein Aufflackern im Hinterkopf, als zöge jemand mit rußigen Fingern kurz über ihre Gedanken. Schemenhafte Eindrücke schlagen auf: flüchtige Fußtritte, kleine, hastige Sohlen, die in verschiedene Richtungen driften, als hätten mehrere Türen zugleich gerufen. Ein kurzer Ruck, als stürze jemand stolpernd zu Boden. Das abgewürgte Aufkeuchen eines Kindes, das noch nicht weiß, ob es weinen darf.

Dann bricht es ab.

Die Spur reißt so jäh, dass ihr Magen nachzieht. Die alten Sperrrunen im Gemäuer fahren hoch wie ein zusammengeschlagener Riegel; sie spürt sie eher, als dass sie sie „sieht“ – ein kaltes, ringförmiges Schließen, das sich um die verschwundenen Gänge legt. Als hätte die Halle selbst ein Lid über ihnen zugezogen.

„Wie Wasser“, murmelt sie, diesmal hörbar, ohne es zu wollen. „Als wären sie unter die Oberfläche gezogen.“ Sie presst die Hand flacher, zwingt sich, nicht tiefer nachzugreifen. Ein weiterer Stoß gegen dieses unsichtbare Geflecht, und die Runen würden zurückbeißen, das weiß sie. Der Stein nimmt Spuren nur an, um sie zu verschlucken; wo der Atem der Halle hinfließt, kann kein Menschenwille trocken stehen bleiben.

Bernulfs erster Reflex ist, dem nächsten Laut hinterherzustürzen, doch kaum setzt er zwischen zwei schief aneinander gelehnten Eichen hindurch, krallt sich Schwindel in seinen Schädel; der Bogen streckt sich, wird zu einem unmöglichen Gang, der mit jedem Atemzug tiefer wächst. Sigerhild packt ihn hart am Mantel, reißt ihn zurück über eine unsichtbare Schwelle. „Nicht noch einer“, zischt sie, die Stimme tief und rau. „Je blinder du drängst, desto gieriger wird der Saal. Er frisst uns in Scheiben, nicht im Ganzen.“

Sie zwingt den Atem durch die verengte Kehle, treibt den Panikstachel zurück wie einen Splitter und beginnt, mit Priesterdisziplin zu zählen: wer noch hier ist, wer fehlt, welche Bögen sich strecken, welche Fugen im Blick verrutschen, sobald ein Fuß sie berührt. Schuld schiebt sie beiseite wie ein zu schweres Messgewand. Erst überleben – dann handeln. Wenn sie Bernulf und diesen kleinen, verängstigten Rest zusammenhält, die Ränder ihrer Gruppe nicht weiter ausfransen lässt, könnte sich in den alten Formeln vielleicht ein Schlupfloch finden, ein Handel, mit dem man Verschwundene aus den verschluckten Winkeln von Eichenkrone zurückkauft, statt ihnen nur nachzuweinen.

„Stillhalten“, sagt Sigerhild, und ihre Stimme klingt ruhiger, als es sich in ihr anfühlt. Sie zieht ein Tuch aus der Manteltasche – der Stoff steif von alter, braun geschrumpfter Kruste – und streift es einmal grob über ihren Ärmel, als ließe sich so die Vergangenheit abwischen. Dann packt sie Bernulfs Kinn mit knochigen Fingern, zwingt sein Gesicht in ihr Blickfeld.

Blut glänzt ihm unter der Nase, ein schmaler Streifen, der zum Mundwinkel zieht. Er will den Kopf wegdrehen, aber der Eisenreif an seinem Handgelenk zuckt, kurz und dunkel, wie ein aufglimmender Nagel in der Glut, und macht ihn starr.

„Schau mich an, Junge.“ Sie presst ihm das Tuch an die Oberlippe, fester, als es nötig wäre. „Alte Steine tun das. Sie werfen Eide zurück wie ein Echo in einer Zisterne. Nichts weiter.“ Ihre Worte fallen glatt, wohlgeölt von Jahren des Lügens im Namen von Göttern, die sie nie ganz losgelassen haben.

Er blinzelt, misstrauisch. „Ein Echo macht keinen Ring heiß.“ Seine Stimme ist belegt, das Blut färbt das Tuch neu. „Das war… mehr.“

„Du hast zu laut geredet.“ Sie zuckt mit der Schulter, als spräche sie von Marktgerede. „Der Saal hört gern zu, also antwortet er. Aber er nimmt dir nicht mehr, als du ihm gibst.“ Lüge, zweischichtig und sauber geschnitten. Die Wahrheit steckt dahinter wie ein Messer im Futter eines Mantels.

Denn während sie spricht, knirscht es ihr dumpf in den Backenzähnen, als bisse sie auf feinen Sand. Ein säuerliches Ziehen zieht vom Gaumen bis in die Schläfen; jeder Atemzug holt ein metallisches Frösteln in die Brust, als läge dort ein kalter Nagel schief zwischen den Rippen. Das ist kein bloßes „Echo“. Das ist Erkennen. Die Halle hat sie geschmeckt.

Sigerhild nimmt die Hand vom Tuch, nur einen Finger breit, um zu prüfen, ob der Blutfluss nachgelassen hat. Das Oath-Stone-Grollen im Boden hebt und senkt sich mit Bernulfs Puls. Unter ihrer Handfläche, über dem rauen Stoff seines Mantels, spürt sie den leisen Widerhall, als woulde jeder Herzschlag gegen unsichtbare Runen stoßen.

Sie schiebt ihn ein kleines Stück von sich weg, gerade so weit, dass sie ihm wieder ins Gesicht sehen kann. „Hör zu.“ Sie wählt die Worte einzeln, sorgfältig, als jongliere sie mit glühenden Eisen. „Hier drin – du sagst nichts, was du nicht bezahlen kannst. Kein großes Reden, keine Schwüre, die sich gut anhören. Verstanden?“

„Du hast gesagt, es sind nur Echos.“ Er hält das Tuch jetzt selbst, starrt sie über den blutigen Stoff hinweg an. In seinen Augen arbeitet der Boss, nicht das Kind. „Warum hat es dann meine Leute getroffen, die kaum in der Nähe standen?“

Weil der Eid sich seine Zeugen zieht wie ein Netz die Fische. Weil dein Ring ein Haken ist, der an allen zerrt, die unter dir stehen. Weil der alte Gott, der dich hält, in diesem Saal nicht fern, sondern zuhause ist.

„Weil ihr alle an deinem Mantelsaum hängt“, sagt sie stattdessen. „Wenn du dich weit aus dem Fenster lehnst, spürt es die ganze Kette. So funktionieren Bande.“ Das ist nicht ganz gelogen, und gerade darum umso gefährlicher.

Sie streicht mit dem Daumen gegen ihre eigenen Schneidezähne, als wolle sie einen Brotkrümel lösen. Das Kribbeln bleibt, breitet sich zu einem leichten Taubwerden im Kiefer aus. Die Halle hat sich nicht nur an Bernulfs Gelöbnis festgesaugt, sondern auch an den Rest: ihr spurensuchendes Lauschen vorhin, das halb gebetete, halb verfluchte Stirnreiben gegen ihren eigenen Glauben. Sie kennt das Gefühl. Tempelsteine hatten es; Altäre, die zu lange Blut gesehen hatten, ebenso. Aber hier ist es weiter, näher, hungriger.

„Die Steine mögen dich nicht“, murmelt Bernulf, als hätte er in ihrem Gesicht etwas gelesen. „Oder sie mögen dich zu sehr.“

„Alte Steine mögen gar nichts“, erwidert sie scharf, zu schnell. Dann zwingt sie die Schultern herunter, zügelt ihre Zunge. „Sie erinnern sich nur. Und Eichenkrone erinnert sich besser als die meisten.“

Er schnauft, senkt den Blick. Für einen Moment sieht er jünger aus, elf vielleicht, nicht Herr über eine Handvoll halbwilder Kinder. Der Eisenring klimpert leise, als er die Finger darum schließt. „Wenn sie sich so gut erinnern… dann wissen sie auch, was man mit einem Eid macht, den man nicht mehr will.“

Das Ziehen in ihrer Brust wird zu einem kurzen, harten Stich. „Vielleicht.“ Sie wagt es nicht, mehr zu sagen. Jedes „vielleicht“ zu viel könnte sich hier in ein „so sei es“ verwandeln.

Sie zieht das Tuch aus seiner Hand, faltet es einmal, zweimal, bis das frische Rot innen verschwindet. Beim Falten spürt sie, wie sich ein kaum merklicher Widerstand um die Geste legt, als wolle der Saal das befleckte Leinen wie ein Siegelstück betrachten. Ein Teil von ihr – der alte, gut gedrillte Priesterkern – beginnt leise zu zählen, halb aus Gewohnheit, halb aus Angst: wie viele blutige Dinge hat dieser Boden schon zu Zeichen gemacht?

„Wir reden später über deinen Ring“, sagt sie leise. „Nicht hier, nicht laut. Und du lässt deine Leute jetzt die Münder halten. Kein Gefluche, kein großspuriges „ich würde lieber sterben als…“, verstanden?“ Sie zwingt ihn, zu nicken. „Der Saal hört jedes Wort als Angebot.“

Er schneidet das Gesicht, doch er nickt. „Und du?“, fragt er nach einem Herzschlag. „Was hast du ihm angeboten, als du da vorhin… gelauscht hast?“

Sigerhild hält seinem Blick stand. Das Kribbeln in den Zähnen verlagert sich in die Zunge, als wolle ein Wort von selbst heraus. Sie beißt darauf, schmeckt Kupfer. „Nichts, was nicht schon an mir klebt“, sagt sie. „Er hat mich nur wiedererkannt.“

Das ist, so nahe an der Wahrheit, dass die Halle keinen Grund hat, zuzubeißen. Und sie spürt es – ein kaum wahrnehmbares Nachlassen des Drucks im Brustkorb, als gäbe ihr jemand für einen Moment Luft, nur um zu prüfen, was sie damit anstellt.

Sie hebt die freie Hand, als wolle sie den Staub prüfen, und lässt ein halblautes Bannwort zwischen den Zähnen hervorrinnen, kaum mehr als ein Hauch, wie man es in jedem Stall, an jedem Sterbebett murmelt. Doch hier sinkt es nicht in die Falten der Luft. Es staut sich.

Die Silben hängen schwer über der Oath-Stone-Scheibe, schwellen an wie feuchtes Mehl, das plötzlich zu gären beginnt. Der Nachklang wird nicht leiser, sondern dichter, schiebt sich ihr in die Ohren zurück, bis sie den eigenen Laut doppelt hört: einmal aus ihrem Mund, einmal aus dem Stein.

Unter der grauen Kruste des Runenblocks zuckt etwas. Die Linien im Silberadernnetz biegen sich, als richteten sie den Rücken; Striche, die sie aus hundert Ritusnächten kennt, verlieren ihre gewohnte Ordnung, werden zu Fragen, nicht zu Antworten. Kein offener Lichtschein, keine flammende Offenbarung – nur ein langsames, prüfendes Bewegen, wie ein Muskel unter alter Narbe.

Sigerhild erkennt das Echo: nicht der Gott, nicht einmal ein bewusster Wille, sondern die rohe Logik des Ortes. Alles Gesagte sucht hier einen Nagel, an dem es hängenbleiben kann.

Der Trostsatz, der ihr automatisch auf die Zunge steigen will – „Es wird nichts geschehen, wenn ihr…“ – versteinert im Kehlkopf. Sie hört sich im Kopf die Formel vollenden und spürt bereits, wie sie sich wie Bleiguss über die Kinder legen würde, unumstößlich, mit allen unbedachten Nebenfolgen.

Ihr wird schlagartig klar, dass jedes dahingesagte „Schon gut“, jedes „Ich sorge dafür“, jedes scharfe „Du wirst“ oder „Du wirst nicht“ sich hier nicht mehr verflüchtigt wie Atem im Nebel. Es wird geritzt, nicht gesprochen. Selbst das gewohnte „Bei meinem Eid“ wäre kein leeres Unterstreichen mehr, sondern ein zweites Band, das sich um alte Knoten legt.

Sie beißt das nächste Wort weg, zwingt die Zunge, gegen den Gaumen zu liegen wie ein Stück Holz. Der Saal horcht. Sie fühlt es, im feinen Nachzittern der Runen, im Druck zwischen den Zähnen, im trockenen Brennen der Kehle: Sprache ist hier Werkzeug und Fessel zugleich. Ein falsch gesetzter Trost könnte zur Schlinge werden, ein Kommandowort zum Urteil.

Und sie, die ihr halbes Leben von auswendig gelernten Formeln gelebt hat, begreift mit wachsender, kalter Furcht, dass ausgerechnet Routine sie hier am schnellsten umbringen würde.

Sie winkt die Nächsten heran, ohne ihren Namen zu rufen – ein Finger, ein scharfes Nicken genügt. „Hierher. In Sichtweite der Throne.“ Sie deutet auf die gesprungenen Sitzsteine, auf das matte, silbrige Flimmern im Herz des Saales. „Nicht dahinter, nicht in die Nischen. Ihr bleibt, wo ich euch sehen kann.“ Kein „versprochen“, kein „ich passe auf euch auf“.

„Und die Münder bleiben zu“, fügt sie hinzu, jedes Wort einzeln abgesetzt. „Kein Reimen, kein Schwören. Kein ‚bei meinem Leben‘, kein ‚ich geb dir mein Wort‘. Kein Prahlen. Verstanden?“

Einer der Kleineren hebt unwillkürlich die Hand, als wolle er widersprechen, lässt sie aber wieder sinken, als der Boden unter seinen nackten Zehen dumpf vibriert. Weit aufgerissene Augen, stumme Nicken – sie haben es alle gespürt, wie etwas Unsichtbares beim Klang ihrer Stimmen die Krallen gewetzt hat.

Schleichend am Rand des Saales entlang tastet sie mit Blick und Tritt: Stellen, wo das Moos ausdünnt und ein vergessener Plattenboden wie eine Narbenhaut freiliegt; Säulen, in deren Wolfsfriesen noch ein Rest von Wehrkraft flackert, matt wie sterbende Glut; dunkle Mauernischen, die jedes Geräusch verschlucken wie ein Brunnen. Im Kopf entsteht eine Karte: Zonen, die horchen, Zonen, die schlafen, und Zonen, die fressen.

Als sie zu Bernulf zurückkehrt, sitzt der Junge auf der untersten Stufe eines zerbrochenen Throns und starrt auf den Eisenreif, als wäre er ihm direkt ins Fleisch genietet. Er hebt den Blick, sucht ihren, und fragt leise, ohne jedes Schwurwort, was für einen Zusatzpreis der Stein ihm eben aufgeladen habe. Kein Trotz, nur nüchterner Schrecken in seiner Stimme. Sigerhild spürt, wie ihr die gewohnte Beschwichtigung im Hals steckenbleibt, und zwingt sich zur Wahrheit: dass sie einen Hof betreten haben, an dem alle Bande – neue wie uralte, vergessene wie verdrängte – aus dem Dunkel gezerrt und in klare, grausame Schrift verwandelt werden.

Sigerhild bleibt zunächst außerhalb des innersten Kreises, wo die Steinplatten nicht mehr glatt, sondern wie verbrannte Haut gefurcht sind. Sie hebt die rechte Hand, Finger gespreizt, als taste sie in kalter Luft nach unsichtbaren Fäden. Kein prunkvoller Gestus, nur die schlichte, auswendig gelernte Motorik alter Dienste.

„Bindungen ersten Grades…“ murmelt sie, fast tonlos, die Worte mehr für den Stein als für menschliche Ohren. Die Fingerspitzen zeichnen unsichtbare Stäbe: senkrecht für Blutsbande, schräg für Fehden, gekrümmt für Knechtschaft. „Sippe, Schwurbrüder, Herr und Mann, Herrin und Magd.“

Einen Herzschlag lang bleibt der Oathstein stumm, die Adern stumpf und dunkel.

Sie atmet flach ein. „Zweiten Grades. Gelobte Dienste gegen Lohn. Schulden, Zins und Pfand. Geheime Gefolgschaft. Schutzgeld.“ Bei dem letzten Wort zuckt sie selbst zusammen, als hätte sie sich einen Dorn ins eigene Fleisch getrieben. Ihr Zeigefinger krümmt sich, malt eine alte Rune der Verpfändung in die Luft, gebrochen, wie man sie in den Hinterzimmern der Schmuggler gelernt hat, nicht im Chor der Tempel.

Im Stein zuckt ein fahles Aufglimmen, erlischt wieder.

„Dritten Grades“, flüstert sie, nun deutlicher, jede Silbe sauber gesetzt wie ein Messer auf einer Waage. „Nicht geschworen, doch gebunden durch Furcht. Durch Hunger. Durch Hoffnung.“ Sie benennt die Versager: „Gebrochene Eide, bei falschem Götternamen gesprochen. Erzwungene Gelübde. Kinderschwüre, die kein Erwachsener ernst nahm, aber einer wie du…“ Ihr Blick streift Bernulf nur flüchtig, kehrt sofort zum Stein zurück. „…einer wie du in Gebrauch nahm.“

Die Luft über der Oath Stone kräuselt sich, als stiege unsichtbarer Dampf aus einem zu heißen Kessel. Die silbernen Adern schießen auf, gleißen wie frisch geschliffene Klingen. Für einen einzigen Wimpernschlag schälen sich Runen aus der Tiefe nach oben, nicht lesbar im üblichen Sinn, sondern grell wie geöffnete Augen, die sie mustern.

Schmerz fährt durch ihre Hand, obwohl sie den Stein nicht berührt. Es ist kein Schnitt, kein Stoß – eher, als packe jemand ihr Nervengeflecht und reiße daran. Die unsichtbare Rune vor ihrer Fingerspitze zerreißt wie Rauch, und ein dünner Blutstropfen quillt unter ihrem Nagel hervor, schwärzt sich und trocknet noch, während er fällt.

Bernulf keucht kurz; das Geräusch kommt von tief unten, aus dem Bauch. Sein Eisenreif schlägt hörbar gegen den Knochen seines Handgelenks, ohne dass er ihn bewegt hätte. Die ledernen Umwicklungen knistern, als zögen sich darunter unsichtbare Riemen zusammen.

„Nicht weiter“, zischt er, mehr gestrengt als befehlend.

Sigerhild ignoriert ihn, zwingt ihre Finger noch einmal in Form. „Kategorien der Mitschuld“, murmelt sie, den Blick auf das flirrende Silber geheftet. „Wer unter seinem Befehl handelt. Wer in seinem Namen droht. Wer von seinem Schutz zehrt, wissentlich oder unwissentlich.“

„Genug“, sagt Bernulf, diesmal lauter; die Jüngeren zucken zusammen. „Er hört dich.“

„Gerade darum“, presst sie hervor. Ein Tropfen Blut rinnt ihr jetzt aus dem linken Nasenloch, warm über die Oberlippe. „Wir müssen wissen, wie weit er lauscht.“

Beim Wort „weit“ brennt der Stein plötzlich auf voller Länge seiner Adern auf, so grell, dass die Schatten der Kinder ringsum wie weggelöscht wirken. Die Runen an der Oberfläche schnellen vor, strecken sich, verhaken sich ineinander, bis sie nicht mehr wie Schrift, sondern wie ein Netz aus blanken Haken aussehen.

Etwas schlägt durch die Halle, lautlos und doch dröhnend: eine Druckwelle, die die Blätter im Dachwerk erzittern lässt, die jedem im Leib die Eingeweide kurz verrückt. Die Kleinen reißen die Arme hoch, einer beginnt stumm zu weinen, ohne zu merken, dass seine eigenen Ohren bluten.

Sigerhild beißt die Zähne so hart aufeinander, dass es in ihrem Kiefer knackt. Ein einziger klarer Eindruck bohrt sich ihr in die Sinne, weder Wort noch Bild, sondern Gewissheit: Der Schwur, den der Junge in jugendlichem Trotz geworfen hat, ist nicht an seine Haut allein geheftet. Er streckt sich, tastend, entlang aller dünnen Fäden, die von ihm ausgehen – Befehle, Drohungen, Versprechen um ein Stück Brot.

Sie stolpert einen Schritt zurück, senkt endlich die Hand. Das Licht im Stein bricht ab, fällt zurück auf ein hartes Schimmern, wie Frost auf Metall. Die Hallenluft schmeckt nach Eisen und etwas Bitterem, das sie aus alten Blutriten kennt.

„Er hat angenommen“, sagt sie heiser, eher zu sich selbst als zu Bernulf. „Nicht nur dich. Alles, was an dir hängt.“

„Unter deinem Befehl“, wiederholt Sigerhild, leiser, weil die Halle lauter geworden ist ohne einen Ton. „Sag die Namen.“

Bernulf schnaubt. „Du kennst doch nicht mal die Hälfte, “

„Der Stein schon.“ Sie wischt das Blut mit dem Handrücken weg, schmiert es achtlos in ihr Kinn. „Wenn du sie nicht nennst, zählt er sie trotzdem. Willst du blind bleiben?“

Ein nervöses Murmeln bei den Kindern. Bernulf presst die Lippen zusammen, dann stößt er einen Namen hervor. Ein Straßenläufer aus dem Grenzort, den er seit Monden nicht gesehen hat. Der Eisenreif zuckt, zieht sich an wie kaltes Wasser um nackte Haut.

„Mehr“, sagt sie.

Er sagt einen weiteren: das Mädchen mit der Brandnarbe am Hals, das Schutzgeld einsammelt, irgendwo jenseits des Flusses. Der Zug im Ring verstärkt sich, ein unsichtbares Rucken, das durch seine Knochen fährt. Er verzieht keine Miene, aber seine Finger spreizen sich, als wolle der Körper fliehen.

„Die Schuldner“, erinnert Sigerhild. „Die, die dir ein Brot, eine Nacht, ihre Haut verdanken.“

Er beginnt sie aufzuzählen – krächzend, stockend –, und mit jedem kaum erinnerlichen Gesicht, jedem Spitznamen, den er halblaut in den Hallenstaub wirft, engt sich der Eisenreif weiter. Leder knarrt, als würde Metall darunter wachsen. Einmal beißt er ein Schmerzenslaut ab, als der Ring so hart gegen die Speiche schlägt, dass es hallt.

Sigerhild blickt nicht zu ihm; sie lauscht in den Stein. Sie spürt, wie sich die neu gezogenen Fäden verlängern, weit hinaus aus der verfallenen Halle, durch Gassen, über Hinterhöfe, hinunter in Erdlöcher und auf Heuböden, wo Kinder schlafen, die seinen Namen nur flüsternd gebrauchen.

„Genug“, presst Bernulf schließlich hervor, blass um den Mund. „Sonst fang ich an, Tote mit aufzulisten.“

Da erst hebt sie den Kopf. „Der Stein kennt den Unterschied“, sagt sie. „Aber du solltest dir merken, dass er ihn nicht immer achtet.“

„Jetzt tastest du zurück“, sagt Sigerhild, die Stimme heiser. „Setz ihm Grenzen, solange er noch zuhört.“

Bernulf schüttelt den Kopf, doch der Reif an seinem Handgelenk pocht wie ein zweites Herz. „Und wenn er’s mir übelnimmt?“

„Er hat dich genommen wie einen Landstrich“, erwidert sie. „Du darfst die Marksteine setzen. Aber jedes Wort sauber, Junge.“

Sie führt ihn, Silbe um Silbe, zu einem Gegenschwur, klein wie ein eingeklemmter Keil: keine neuen Hände unter seinem Befehl, keine frischen Schulden, die seinen Namen tragen, bis dieser erste Hunger gestillt sei. Als er spricht, werden die Runen auf dem Stein matter, als striche jemand mit nassen Fingern über glühende Kohlen. Die Hallenluft zieht sich zusammen, beleidigt – ein beleidigter, uralter Wirt, dem ein Gast plötzlich den Krug zudeckt.

Sigerhild fühlt es im Zahnfleisch, im vernarbten Fleisch ihrer alten Schnittwunden: Widerwillen. Der Oath Stone rührt sich, als wolle er die Fassung sprengen, dann sinkt er in ein dumpfes, graues Leuchten zurück. Kein Triumph, kein freier Platz – nur ein gestutzter Rand um Bernulfs Reich, den die Macht knirschend, aber nicht brechend hinnimmt.

Die Kinder, bleich von Nasenblut und flüsterndem Stein, raunen von Flüchen und hungrigen Göttern. Sigerhild lässt die Hedge-Heilerin aufblitzen: prüft Pulse, schnauzt leise, schickt sie in versetzten Grüppchen den Hirschpfad hinab, „um die Wege zu wachen“. In Wahrheit staffelt sie Fluchtlinien und Alibis, bis innerhalb der Hallengrenze nur noch sie und Bernulf übrig sind, dem Kommenden ausgesetzt.

Die Stille danach ist kein bloßes Fehlen von Laut, sondern ein Zuschlagen: die Eichenbögen neigen sich, als pressten sie die Halle zu, und der Staub in der Luft sinkt langsamer, prüfender. Sigerhild begreift, dass sie mit ihrem Fragen und Zureden dem Ort die Auslese überlassen hat. Die Kinder sind fortgestaffelt, Zeugen abgelöst; übrig bleiben Priesterin und Junge, nackt vor einer Macht, die keine Zuschauer duldet, wenn sie Verträge wendet und verschüttete Klauseln aus dem Dunkel kratzt.

Die Erkenntnis trifft Sigerhild nicht wie ein Schlag, sondern wie etwas, das lange im Dunkel lag und nun einfach den Kopf hebt. Kein Zufall, keine kluge Vorsicht ihrerseits: der Wald selbst hat die Kinder abgezogen, wie man Fleisch von einem Knochen löst, sauber, wortlos. Was eben noch eine lose Schar gewesen war – gerunzelte Stirnen, verstohlene Blicke zum Stein, Blut an Oberlippen und Knöcheln – ist nun nur noch Erinnerung und Fußspur im Staub.

„Er wollte uns so“, denkt sie, ohne den Mund zu öffnen. Nicht „uns alle“, nicht „euch mitsamt euren mageren Leibchen und dreckigen Knien“ – nur sie und den Jungen. Ein Priestermaul, das die alten Formeln kennt, und ein Kind, dessen Herz bereits in einen Ring geschmiedet ist.

Der Oath Stone pulst leise, ein dumpfes, zähes Schlagen, das nicht in den Ohren, sondern hinter den Zähnen sitzt. Es ist keine Stimme, nicht einmal ein Flüstern – eher das gespannte Erwarten eines Wirtes, der den letzten Gast betrachtet und prüft, ob der Becher nun endlich richtig gefüllt wird. Sigerhild spürt, wie sich die Härchen an ihren Unterarmen sträuben, obwohl die Luft kühl bleibt.

Sie lässt den Blick über die hallende Leere der gefallenen Halle streifen: die geborstenen Stufen, wo einst Krieger knieten; das schwarze Spiegelbecken, das heute nur noch eine matte Haut aus Stillstand zeigt; die oaken Bogen, deren Blätter kein Wind mehr regt. Kein Kinderatmen, kein verdrücktes Kichern, nur sie, Bernulf und das schleichende, silbrige Leuchten in den Adern des Steins.

„Die Zeugen sind fort“, erkennt sie, und der Gedanke schmeckt nach altem Blut und Pergamentstaub. Was jetzt gesprochen wird, steht nackt da, ohne Ablenkung, ohne milderndes Gemurmel. Nur Macht und Gegenstand, Gläubiger und Schuldner. Und sie hat den Jungen ausgerechnet hierher geführt.

Unter ihrer geflickten Mantelwolle prickeln die verheilten Schnittnarben ihrer eigenen, verratenen Eide. Die Vergangenheit rührt sich, wie ein Tier hinter Gitterstäben, das ahnt, dass jemand den Schlüssel in der Tasche trägt. Sie wagt nicht, zum Stein zu sprechen, nicht einmal innerlich seine alten Namen zu formen. Worte sind hier keine Gedanken mehr, sondern Werkzeug und Beweisstück.

Sie stellt fest, dass ihre Hände unmerklich zu Fäusten geworden sind, Nägel in den Handflächen. „Zu spät für Reue“, murmelt sie nicht, aber der Satz schiebt sich wie ein Stein durch ihre Brust. Der Wald hat gewählt. Keine Bande, keine Schar, kein Getriebe. Nur eine Priesterin auf der Flucht und ein Junge, an den bereits ein ganzes Rudel Schicksale gekettet ist.

Und über allem dieses lautlose, witternde Lauschen der Halle, als prüfe sie, welches Fleisch am Knochen übrig bleibt, wenn der Handel endlich neu gefasst wird.

Bernulf wirkt ohne den Ring seiner Laufburschen plötzlich jünger, als hätte man ihm mit den Blicken der anderen auch die aufgesteckte Härte abgezogen. Er hält sich gerade, trotzig im Kinn, doch seine Füße suchen unbewusst den kürzesten Weg zum gesprungenen Sockel des Steins, als läge dort ein unsichtbarer Haken in seinem Fleisch. Eine Hand hebt sich, zögert im Halbdunkel, die Finger gespreizt, wie bei einem, der nicht berühren will und doch schon längst berührt ist.

Er verzieht das Gesicht, nicht vor Angst, sondern vor dem dumpfen Zug, der durch den Eisenring an seinem Handgelenk fährt und hinauf in den Arm schleicht, Wirbel für Wirbel die Wirbelsäule hinauf. Als er schluckt, knackt etwas in seinem Hals, trocken wie altes Holz.

„Er ruft mich“, sagt er nicht, aber sein Blick verrät es: die Pupillen leicht geweitet, der Mundwinkel fest, als koste er ein unbekanntes Wort auf der Zunge. Jeder Schritt, den er näher rückt, ist halb freiwillig, halb Spasmus, ein stilles Ringen zwischen eigenem Willen und der kalten, ziehenden Forderung im Metall an seiner Haut.

Sigerhild fährt zwischen Jungen und Stein, noch ehe ihr Verstand nachkommt, die Handflächen offen, leer, als wollte sie zeigen, dass sie nichts bringt als Haut und alte Schuld. Die Luft um ihre Handgelenke dickt sich, wird zäh wie kalter Honig; etwas Unsichtbares tastet nach ihr, legt Fäden an, prüft, wo es Fleisch finden kann. Es fühlt sich an wie das Anlegen eines längst vertrauten Werkzeugs, ein Abmessen, ob dieses Stück Mensch noch in die alte Form passt. Die Härchen an ihren Armen legen sich flach, nicht vor Kälte, sondern vor Wiedererkennung. Sie spürt, wie die Halle sie mustert, nicht als Frau, sondern als Funktion: Priestermaul, Eidmesser, jene, die Knoten legt – oder löst.

Das Blättersäuseln schwillt an zu einem geschichteten Murmeln, nicht ganz Worte, doch dicht genug daran, dass ihr priestergeübtes Ohr den Takt von Verhandlungen heraushört – Frage, Gegenforderung, Preis – zäh und eindringlich auf den zittrigen Kern von Bernulfs Entschlossenheit gerichtet. Kein Trost, kein Versprechen: nur ein stummes Abklopfen seiner Grenzen, wo sie brechen, wo sie standhalten könnten.

Im Mittelpunkt des Thronkreises, allein zwischen toten Bannern und blinden Wolfssäulen, stehen sie bloß, als stünden sie nackt im Blick einer Macht, die nichts von ihrer Furcht wissen will, nur von der Form des nächsten Eides, mit dem man sie füttert. Kein Orakel, kein Trost, nur hungernde Aufmerksamkeit, die abwägt, welcher von beiden zuerst bricht.


When the Oath-Wood Answers

Sie treibt sie mit knappen Gesten eng zusammen, bis Knie und Schultern aneinanderstoßen, und zählt die Köpfe zweimal, die Lippen lautlos formend, als würde ein ausgesprochenes Zahlwort hier schon als Versprechen gelten. Einer fehlt im Schatten, ihr Herz schlägt hart an die Rippen – dann erkennt sie das schmale Gesicht hinter Bernulfs Schulter und atmet nur durch die Nase aus, kurz, scharf, als schneide sie sich selbst zurück in Kontrolle.

Unter den verzogenen Eichenrippen ist die Luft zäh wie Honig, schwer und klebrig in Lunge und Kehle. Jeder Atemzug geht langsam hinein, als müsse er sich durch unsichtbare Fäden drücken; jedes Geräusch sackt ab, bevor es ganz geboren ist. Das rastlose Flüstern der Halle, eben noch wie ein Chor aus Blättern und fernen Stimmen, sinkt in einen dumpfen, weit entfernten Murmelton, als wären Türen aus nassem Filz zwischen ihnen und den alten Eiden zugefallen.

„Keiner redet ohne Not“, zischt sie, so leise, dass es kaum mehr ist als die Formung des Mundes. Ihre Stimme wird vom träge gewordenen Raum verschluckt, und doch fahren zwei der Kleineren zusammen, als hätte sie geschrien. Bernulf wirft ihr einen Blick zu, trotzig und weiß um die Lippen, seine Finger krampfhaft um das zu schwere Eisen an seinem Handgelenk gelegt. Der Ring wirkt dunkler hier, als sauge er das kümmerliche Licht, und die Runenschnüre darum herum schwellen und ziehen sich zusammen, als atmeten sie.

Sigerhilds Nackenhaare stellen sich auf. In der Ferne, jenseits der archenden Äste, scheinen die Schatten zwischen den Wolfssäulen dichter zu werden, formen lodernde Umrisse von Helmen und Schilden, die kommen und gehen wie Rauch. Doch unter dem gebrochenen Bogen selbst ist eine andere Schwere: weniger drohende Erwartung, mehr abgestandene Müdigkeit, als hätte hier einmal ein Schutzschild gestanden, der seit Jahrhunderten nichts anderes getan hat, als zu halten.

Sie zwingt ihre eigenen Hände ruhig, obwohl noch der stechende Nachhall des Oathstones in ihren Sehnen lauert. Der Schmerz ihrer verschluckten Wahrheiten pocht dumpf im Fleisch, wie eine alte Brandwunde, und sie weiß: Ein falsches Wort, ein unbedachter Schwur, und dieser Ort wird aufwachen, hungrig.

„Rückt enger“, murmelt sie, mehr Lippenbewegung als Laut. „Holz im Rücken, kein Stein.“ Sie tippt mit zwei Fingern gegen die lebende Rinde hinter ihnen, spürt darunter das langsame, gleichgültige Leben des Baumes – ein ferner, blinder Puls, der nichts weiß von Göttern und Gerichten. Das vertraut sie eher als der gefurchten, runenversenkten Felsmitte, wo Oden und Könige einst ihre Seelen verpfändeten.

Ein Mädchen beginnt zu wimmern, ganz leise. Sigerhilds Blick schneidet zu ihr hinüber; das Wimmern bricht ab wie mit dem Messer abgeschnitten, mehr aus Furcht vor der Frau als vor der Halle. Das Schuldgefühl sticht kurz, dann schiebt sie es beiseite. Mitleid kann warten. Ein einziger panischer Schrei könnte hier zum Gebet werden, und Gebete werden in Eichenkrone beantwortet – nur selten, wie der Beter es wünscht.

Vom Oathstone her schwappt ein kaum wahrnehmbares Ziehen durch den Raum, ein Sog im Innersten, als würde der Stein den Geschmack von Blut und Odem prüfen, abwägen. Bernulf zuckt zusammen, presst den Ring fester an die Brust, als könnte er das unsichtbare Band damit kürzen. Er sieht sie an, fragend, gehorsam wider Willen.

Sie schüttelt nur sacht den Kopf. Keine Versprechen. Keine Fragen. Noch nicht.

Das Honigschwere der Luft legt sich wie ein Schleier über ihre kleine, zusammengedrängte Schar. Für einen Augenblick scheint es, als hielte selbst die Zeit den Atem an unter den verkrümmten Eichenbögen, als lauschte die verfallene Halle, ob jemand töricht genug sein wird, das Schweigen zu brechen.

Die wolfsgeritzten Pfeiler zu beiden Seiten des Bogens atmen schwaches Licht; in den eingeschnittenen Zeichen glimmt ein dumpfes Glutrot auf, als würde ein längst verloschenes Feuer unter Asche kurz aufstoßen. Die geschnitzten Fänge sind nach außen gerichtet, zum Thronkreis hin, nicht zu ihnen darunter, als stünden diese hölzernen Wächter noch immer zwischen der Welt der Schwüre und allem, was dahinter lauert. Kein freundlicher Schutz – eher misstrauische Grenzer, die alles mustern, was passieren will.

Sigerhild hebt langsam die Hand, zwingt die Finger ruhig, und streift mit den Knöcheln knapp an der Runenbahn entlang. Ein trockener, kaum hörbarer Riss fährt durch die Luft, wie wenn gefrorene Rinde springt. Es knistert in den Haarwurzeln, ein kurzer Schlag kalter Kraft, mehr Erinnerung als wirkende Macht. Alter Bann, denkt sie, nicht gebrochen, nur ermüdet. Lange hat niemand mehr hier gestanden, der die rechte Formel flüsterte.

Unter ihrer Haut zuckt der Widerhall des Oathstones dagegen wie ein giftiger Stachel. Sie nimmt die Hand hastig zurück, ballt sie zur Faust, verbietet sich jeden weiteren Kontakt. Auch müde Wächter können noch zubeißen, wenn man sie reizt.

„Rücken zum Holz, nicht zum Stein“, formt sie erneut, nun fast nur Atem, ein raues Kratzen in der Kehle, das sich weigert, zu einem Wort zu werden, an dem der Saal sich festbeißen könnte. Die Kinder folgen, rutschen mit knarrenden Sohlen enger an den lebenden Stamm, als suchten sie im rauen Biss der Rinde Halt vor dem glatten Zug der Runen im Rücken. Schultern pressen sich gegen das feuchte, warme Holz, und sie spürt förmlich, wie der schlechte Hunger der Halle hier dünner wird, ausgefranst am stummen, langsamen Leben des Baumes.

Als sie flüchtig an einem der unter den Fetzen ihrer Kleidung verborgenen Messer entlangstreicht, merkt sie, wie die Klinge schwerer hängt, stumpfer in ihrer Gegenwart liegt – kein gieriges Flimmern nach Blut, nur müder Stahl. Selbst das Eisen an Bernulfs Arm verliert einen Hauch seines fiebrigen Glanzes, das Glimmen der Runenschnur sinkt tiefer in die Knoten. Gut, denkt sie, fast zufrieden: In dieser hölzernen Tasche atmet der Ort flacher, und was töten will, muss sich hier mehr anstrengen als wir, die nur überleben wollen.

Sie nimmt ihren Platz selbst, am Maul des Bogens, wo Wurzeln wie eine niedrige Brustwehr aus dem Boden drängen. Kniend lehnt sie den Unterarm daran, so dass sie mit einem Blick sowohl den silbern geäderten Block des Oathstones und den dämmrigen Thronring im Auge behält, als auch die fahlen, verrinnenden Linien der Hirschpfade, die vielleicht noch hinausführen aus diesem Fang aus Ley und Glamour, wenn man den richtigen Moment erwischt, bevor der Wald den Schritt hinter ihnen verschluckt.

Einen Schlag lang tut sie nichts als atmen, zählt die Schläge in ihrem Hals wie Perlen auf einer Gebetskette, schmeckt Harz und alten Weihrauch unter dem eisernen Hauch von Bernulfs angesengtem Ring, zwingt die zitternden Finger zur Ruhe. Mit einem geübten, flüchtigen Blick tastet sie Gesichter, Schultern, Knie ab, wägt Blut, Schwellungen, Blickklarheit, rechnet stumm, wie viele Atemzüge dieses missgünstige Obdach ihnen lässt, ehe die Halle sich wieder an sie erinnert und nach dem nächsten unbedachten Wort schnappt, das sie ihr vorwirft.

Sie löst Bernulfs Finger vom Ring wie Krallen vom Fleisch, einen nach dem anderen, langsam genug, dass er mitkommt und nicht dagegenkrampft. Das Gelenk knackt leise, die Nägel sind bis zum Halbmond hinunter eingerissen, in den Rillen unter dem Schmutz dunkelt geronnenes Blut. Das Eisen selbst hat tiefe, zornrote Furchen in sein Handgelenk gefressen, aber die Haut ist noch Haut, kein geschwärzter, mit Metall verwachsener Rand, kein Omen dafür, dass der Schwur sich bis in den Knochen gefressen hat.

„Lass“, zischt er, halb Schmerz, halb Trotz, und versucht, die Hand wieder zu Fäusten zu ballen. Sie schneidet den Versuch ab, indem sie seinen Unterarm fest an den kühlen, bemoosten Nebenstein drückt, nicht an die Stufen des Oathstones, sondern an stumpfes, namenloses Gestein, das nichts hören soll und nichts bindet. Die ersten Finger zucken, als wollten sie zurück zum Ring greifen, und sie legt ihre eigene, schmale Hand darüber, nicht sanft, aber sicher.

„Atmen“, sagt sie, und zwingt das Wort durch den trockenen Rachen, als zählte es eher als Befehl an seine Lunge denn als Trost. „Ein. Aus. Nur das.“ Kein „es wird“, kein „bald“, nichts, was der Saal als Versprechen fressen könnte. Sein Atem kommt stoßweise, scharf zwischen den Zähnen ausfahrend, und sie spürt das Zittern, das vom Ring heraufkriecht, durch die Sehne in ihr Halten.

Sie zählt seine Züge mit, stumm, richtet sie an der langsamen, sickernden Kälte des Steins unter ihrer Hand aus. Die Hitze des Eisens an seinem Handgelenk flackert, verliert ein wenig von ihrem brandigen Drängen, als würde der namenlose Fels die Wut der Runen absaugen wie überlaufenden Weihrauchrauch aus einer Schale. Erst als die Verkrampfung in seinen Fingern nachlässt und die Sehnen nicht mehr wie Drahtstränge unter der Haut stehen, lockert sie ihren Griff einen Fingerbreit.

„Halt dich daran fest“, murmelt sie, den Blick auf seine Pupillen gerichtet, prüfend, ob sie noch gleich groß sind, ob nicht irgendwo in der Tiefe des Rings ein fremdes Licht aufflammt. „Nicht an Worten. Am Atem.“

Sie arbeitet sich mit derselben nüchternen Gründlichkeit vor wie einst durch eine Reihe von Opfernden vor dem Altarschrein, nur dass diese hier noch leben sollen, nicht schöner sterben. Ein schneller, erbarmungsloser Bestand: Finger, die sich beugen; Knöchel, die nicht unter ihrem Daumen nachgeben; Rippen, über die sie mit zwei flachen, prüfenden Händen streicht, horchend auf das scharfe Aufzischen, das eine verborgene Bruchstelle verraten würde. Wo sie nur blauen Schatten findet, schiebt sie grob, aber zweckmäßig Stoff darüber, knotet zerrissene Mäntel zu dickeren Lagen um nackte Schultern, dreht ausgefranste Säume zu notdürftigen Kapuzen, damit der Hallenatem ihnen nicht in den Nacken kriecht.

Ein Mädchen mit aufgeschlagenem Oberschenkel beißt sich auf die Lippen, als Sigerhild die Wunde freilegt, das kalte Luftmesser darüberfahren lässt. Kein Wasser, keine Salbe, nur das Restchen Sauberkeit, das sie noch besitzt. Mit einer knappen Bewegung reißt sie den letzten noch halbwegs reinen Streifen aus ihrem eigenen Unterhemd, weißes Gewebe im Dämmergrau, und legt ihn straff um die klaffende Haut, bindet den Knoten flach zur Seite, damit kein Druck darauf scheuert, ehe die Kälte ihre Zähne zu tief hineinschlägt.

Sie zieht die Lumpen fester, prüft mit zwei Fingern, ob das Blut wirklich stockt, ehe sie den Knoten endgültig zuzieht. Der Junge mit der aufgeplatzten Braue versucht den Kopf wegzudrehen, doch sie folgt der Bewegung unerbittlich, bis seine Augen wieder bei ihr sind. „Hier.“ Sie drückt ihm den zerfransten Lappen in die Finger, führt seine Hand hoch, bis Stoff auf Wunde liegt. „Du hältst. Nicht loslassen.“ Kein Versprechen, nur Befehl. Seine Unterlippe bebt, doch er klemmt die Zähne zusammen. Sie umgreift seinen Ellbogen hart, damit das Zittern nicht bis in die Stirn läuft.

Als der Kleinste plötzlich zu wimmern anfängt, bloß beim Anblick der roten Finger seines Nachbarn, fährt der Laut ihr ins Mark wie ein Alarmruf, den die Halle hören könnte. Ehe das Keinen sich zu einem richtigen Schrei auswachsen kann, kramt sie ein Stück zähes, geräuchertes Fleisch aus dem Beutel, drückt es ihm in die Hand. „Hier. Kau.“ Kein „ruhig“, kein „ist gut“ – nur das eine Wort. Er starrt sie an, die Augen rund und glasig, die Unterlippe voller Speichel und Angst.

Sie tippt ihm mit zwei knochigen Fingerknöcheln gegen das Kinn, ein trockenes Klacken von Haut auf Knochen. „Auf. Zahn darauf, nicht auf deiner Zunge.“ Widerwillig gehorcht der Mund dem Impuls der Berührung; die Zähne schließen sich um das zähe Stück, reißen nichts, halten nur. Sie wartet, bis der erste, unsichere Kauversuch kommt, dann der zweite. Salz und Rauch füllen die Luft zwischen ihnen, überdecken für einen Herzschlag den metallenen Hauch von altem Blut. Mit jedem Biss wird das Keinen stumpfer, kürzer, sinkt vom Hals zurück in die Brust, bis es nur noch ein raues Husten ist, das der Hallenstein nicht krumm nehmen wird.

Bernulf, noch bleich und schweißfeucht, schiebt sich am borkigen Bogen empor, bis die Schultern wieder gegen das Holz rasten, und streckt knapp das Kinn nach dem Beutel aus. Mit der linken Hand zählt er harte Brotrinden und schrumpelige Äpfel ab, legt sie in kargen, gleichen Haufen vor jede Hand, die sich streckt. Seine Augen bleiben schmal und rechnend, kein Glanz von Mitleid, kein halber Trost darin, während er die knorrigen Stücke weiterreicht, stumm darauf bedacht, dass kein Wort sich löst, das der Hallenstein als Zusage greifen könnte.

Ein kleines Mädchen mit Brotkrumen an den aufgesprungenen Lippen blinzelt zu ihm hoch, die Frage schon als warmes Flüstern im Hals: „Und morgen…?“ Bernulfs Blick trifft sie wie ein Schlag. Ein knappes Kopfschütteln, scharf wie ein Messerstich, erstickt das Wort, ehe es zum Versprechen gerinnt. Er kaut einmal leer, als wolle er den Trost selbst hinunterschlucken, der ihm auf die Zunge steigen will. Die anderen Kinder senken instinktiv den Kopf, kauen plötzlich langsamer, vorsichtiger, als könnten selbst zu gierige Bisse den Stein reizen. Kein Laut mehr außer Zähnen auf harter Rinde, Atem, der im Dämmer hängt – und darüber die gespannte, lauernde Stille der Halle, die jeden Hunger hört, doch nur gebundene Worte gelten lässt.

Das Mädchen, das beinahe gesprochen hätte, rutscht näher, bis ihre Knie im feuchten Mulm schmerzen. Sie wagt kaum zu atmen, während Sigerhild die dünne Schicht aus Moder und Laub zur Seite schiebt. Jeder Fingerzug ist langsam, sorgsam, wie ein Gebet ohne Worte; die morschen Blätter krümeln geräuschlos, geben den Blick frei auf hart gepresste, kühle Erde, in der einst Schritte von Höheren eingeprägt gewesen sein könnten. Die Klinge in Sigerhilds Hand liegt dabei flach, der Schliff dem Boden zugewandt, als wollte sie den blanken Stahl vor den Augen der Halle verbergen.

Das Mädchen bemerkt, wie die Frau den Griff fester fasst, bevor sie die Spitze kurz gegen den eigenen Unterarm drückt. Kein großes Aufritzen, nur ein scharfer Stich – doch das Blut, das hervorquillt, ist dunkler, beinahe schwärzlich im schwindenden Licht, dick wie altes Harz. Es perlt nicht leicht, sondern sammelt sich schwer in der Vertiefung ihrer Haut, als wolle es ungern hinaus. Sigerhilds Mund verzieht sich kaum merklich, ein Schatten von etwas, das weder Schmerz noch Furcht ist; eher das Wiedererkennen eines längst bekannten Makels.

Sie schiebt die Klinge sofort wieder in die Scheide, das Metall verborgen, und fängt die langsamen Tropfen mit dem ausgefransten Rand ihres Ärmels auf. Der Stoff trinkt gierig, wird in einem unregelmäßigen Fleck fast schwarz. Einen Atemzug lang hält sie inne, den Lappen zwischen den Fingern, als würde sie sein Gewicht prüfen – nicht den Stoff, sondern das, was daran klebt: Jahre gekaufter Liturgien, Eide, die sie bezeugt und verraten hat, Gesichter von Männern und Frauen, die in ihr Messer, ihre Runen vertraut hatten.

Dann legt sie den blutigen Fetzen in die ausgehobene Kreisfläche, säuberlich in die Mitte, als setze sie einen kleinen, unbeholfenen Leichnam auf eine Bahre aus nackter Erde. Nicht achtlos, nicht zärtlich, sondern mit der nüchternen Sorgfalt einer, die weiß, dass selbst ein winziges Opfer gesehen wird. Das Mädchen verfolgt jede Bewegung, die Lippen unbewusst zu einem stummen Spruch geöffnet, den sie nicht zu Ende denkt. Um sie her senkt sich das Dämmerlicht dichter, und der Hallenstein im Rücken der Eichenwölbung scheint näher zu rücken, obwohl niemand sich geregt hat.

Bernulf zögert, als Sigerhild ohne hinzusehen die Hand zurückstreckt, die Innenfläche nach oben, als wäre dies seit Jahren seine einzige Richtung, ihr etwas zu geben oder genommen zu werden. Seine Finger fahren suchend über die wenigen Münzen in seinem Beutel, tasten den scharfen Rand eines neueren Pfennigs, verweilen dann an dem einen, stumpf blank geriebenen Stück Kupfer. Er hält den Atem an, als müsse er sich von einem Zahn trennen, der ihm noch im Mund steckt. Erst im zweiten Versuch löst sich die Münze aus seiner Faust und fällt in ihre offene Hand, schwerer, als ein so dünnes Stück Metall sein dürfte; der Abdruck eines längst verblichenen Wappens ist fast völlig fort, doch seine Wärme bleibt, von vielen Nächten in seiner Handinnenfläche.

„Es kommt zu dir zurück, wenn es geheißen ist,“ murmelt Sigerhild, ohne sich umzuwenden, eine Formel, halb Gebet, halb Handel, die sich an die schlafenden Ritzen des Gemäuers schmiegt. Sie legt das Kupfer sorgsam neben den blutigen Lappen in den freigeräumten Erdkreis. Die Luft der Halle zieht sich zusammen, als hielte sie den Atem an, Blätterraunen und fernes Tropfen verstummen. Sigerhild schlägt Feuerstein an Stahl; die ersten Funken verglimmen feucht im Moder, einsickern stumm in verrottetes Laub. Dann fängt ein letzter, kaum sichtbarer Funken mit leisem Zischen, als sei er in fremdem Fleisch gelandet, und wächst zu einer dünnen, unnatürlichen Flamme, blau wie verhaltenes Winterlicht. Sie züngelt niedrig an Blut und Kupfer entlang, leckt prüfend daran, ehe sie sich zu einem kleinen, beständigen Schein sammelt.

Das Feuer malt ihre Gesichter in fahlem, tiefem Licht, als säßen sie alle auf dem Grund eines stillen, schwarzen Weihers. Jeder Zug wird fremd: Wangenknochen treten scharf hervor, Augen flackern wie Glut unter Wasser, und in manchem Blick liegt für einen Herzschlag lang etwas Unmenschliches, wie bei Wechselbälgern, die sich an fremde Haut erst noch gewöhnen. Andere sehen aus wie bereits gewaschene Leiber, bereit zur Totenwache. Und doch ist die Wärme, die von dem kümmerlichen Kreis ausgeht, zweifellos wirklich; Muskeln lösen sich, Schultern sinken, das schlimmste Klappern von Zähnen verstummt. Die Schatten selbst scheinen sich an einer unsichtbaren Grenze zu stauen, kriechen heran und weichen zurück, bis ein schmaler, fast sauberer Ring unter dem geneigten Eichenbogen bleibt, wo der Atem weniger dampft und das dumpfe Dröhnen in den Ohren nachlässt, als hätten unsichtbare Finger den Griff gelockert. Manche der Kinder rücken unwillkürlich so, dass ihre nackten Zehen gerade eben in diesen Randbereich reichen, tastend wie Fühler; keines wagt, ganz hinauszutreten. Sigerhild beobachtet sie kurz, zählt fast unmerklich durch, als prüfe sie eine Reihe flackernder Opferlichter – und atmet erst dann etwas freier aus.

Bernulf, den Kiefer vorgeschoben, als müsse er der Halle beweisen, wer hier noch Befehle gibt, beugt sich vor, flüstert zwei der kräftigeren Älteren zu und stößt mit dem Kinn in Richtung des Dunkels zwischen den geborstenen Säulen. „Zum Tümpel beim Wolfsstein,“ sagt er; den älteren, wahren Namen verschluckt er, als könnte schon sein Klang Schulden wecken. Sigerhilds knappes Nicken von vorhin haftet ihm im Nacken wie ein Siegel: der geringste von vielen üblen Wegen. Die beiden verschwinden mit leeren Schläuchen und gesenkten Häuptern, keine Klinge gezogen, nur Finger an Holzgriffen, die schwerer wirken, je näher sie dem unsichtbaren Wasserrand kommen. Der Hallenraum lauscht mit; jeder Schritt wird von dem gedämpften Hall der lebenden Eichen verschlungen. Als sie endlich zurückkehren, nach einem gedehnten Reigen aus zu schnell und doch zu langsam schlagenden Herzschlägen, glitzert die Flüssigkeit im fahlen Blau des Opferscheins. Der Geruch, der aus den geöffneten Mäulern der Schläuche steigt, ist feucht und alt, aber sauber: kalter Stein, Laubfaul, kein Eisen, kein Süßfaul der Verwesung.

Im Kniestand über der Flamme wiegt Sigerhild jeden Schlauch in den Händen, als prüfe sie ein krankes Kind, ehe sie ihn weiterreicht. Ihre Lippen bewegen sich kaum; der alte Waldsegen, den einst Jagdpriester ihr für Quellen im Frühjahr beigebracht haben, rinnt wie kalter Rauch durch ihre Zähne. Hier fällt jedes Wort schwerer, sinkt in Leder und Wasser, als sei die Halle selbst durstig danach. Bernulf spürt, wie sich ihm die feinen Härchen auf den Unterarmen sträuben; ein trockenes Knistern fährt durch die runenumwundenen Schnüre seines Ringes, als habe ein unsichtbarer Schreiber am Rand seines Eides einen Haken gesetzt. Die Kinder trinken in bedachten Zügen, den Becher kaum ganz an die Lippen gesetzt, als könne der Segen überlaufen. Nach und nach löst sich das starre Funkeln in ihren Blicken; was bleibt, ist müde Wachsamkeit, stumpfer Hunger, der wenigstens nicht mehr schreit.

Das Blätterdach darüber lässt keinen Stern durch, nur ein dumpfes, von nirgends her kommendes Leuchten, das eher eine Erinnerung an Licht ist als Licht selbst. Und doch spürt Sigerhild, wie die alten Rhythmen der Nacht ihr in die Knochen sinken, als zöge jemand einen dunklen Vorhang durch ihr Mark. Die Kinder geben dem langsamer nach als sonst; Misstrauen hält länger wach als Müdigkeit. Aber der gesegnete Schluck in den Mägen, ein Streifen alten Brotes, der mehr nach Staub als nach Korn schmeckt und dennoch das Zittern dämpft, tut das Seine.

Einer nach dem andern sackt dort zusammen, wo er sitzt, als hätte ihn plötzlich jemand von innen her ausgeschnitzt. Schultern rutschen von den Ohren, Kinnladen lösen sich. Sie drehen sich, fast ohne es zu merken, mit den Rücken zu den knorrigen Wurzeln, suchen Halt an kalter Rinde, ziehen Knie an die Brust, bis aus zerlumpten Gestalten gekrümmte Bündel werden. Ein Mädchen mit geschorenem Kopf tastet im Halbschlaf nach der Hand eines Jüngeren und findet nur dessen zerrissenen Ärmel; sie krallt sich daran fest, als sei es ein Talisman, und gleitet dann doch weg.

Sie rücken enger an das schwache, bläuliche Feuer, als wäre es ein Herd in irgendeinem weit zurückliegenden Hof, den keiner von ihnen je wirklich besessen hat. In dem flackernden Schein werden schmutzverkrustete Zehen zu Kinderfüßen auf warmem Lehm, der Rauch schmeckt für einen flüchtigen Atemzug nach nassem Holz und dünnem Eintopf statt nach kalter Asche. Eine mageren Junge, der in Waldheim als Messerläufer gilt, sinkt so nahe an die Glut, dass der Saum seines Mantels Funken fängt; ein daneben liegender Bursche schlägt im Halbschlaf danach, ohne die Augen zu öffnen, wie ein Bruder, der die Decke zurechtrückt.

Jeder sucht sich seinen Platz am Rand des Lichtkreises, als folge er einer unausgesprochenen Ordnung. Die Jüngsten kriechen fast in die Nähe der Glut, die Älteren lagern wie eine lose, müde Mauer dahinter, halb Schutz, halb Kontrolle. Bernulf bleibt zuerst noch aufrecht, den Rücken an einer Wurzel, den Ringarm über die Knie geklemmt, als müsse er Wache halten, bis die letzten Blicke trüber werden. Erst als seine Lider schwer zucken und sein Atem sich dem der anderen angleicht, erlaubt er sich, tiefer zu gleiten, ohne die Hand ganz vom Eisen zu lösen.

Um sie her drängt die vertiefte Dämmerung der Halle bis dicht an den Ring aus Eichenschatten heran, als hätte jemand sie mit pechschwarzer, zäher Farbe angerührt. Jenseits des notdürftig gesicherten Bereichs lauern gerissene Säulen, zerbrochene Stufen, das Glimmen unsichtbarer Runen an nassen Steinen, doch an der Grenze, die der geneigte Baum und das flackernde Feuer ziehen, scheint die Schwere der Luft ein wenig nachzulassen. Dort schöpfen sie so viel Trost, wie sich aus magerem Schein und fremder Stille ziehen lässt, während das Gemurmel der Blätter knapp außerhalb des Kreises weiter verhandelt, als ginge sie alle das gar nichts an.

Sigerhild bleibt aufrecht, das Rückgrat an die kalte, gerippte Borke gepresst, und zwingt ihre Lider offen, obwohl die Müdigkeit wie Blei an den Wimpern zerrt. Ihr Blick zieht in langsamen, immergleichen Bahnen: Feuer, Kinder, gebrochener Bogen, äußere Pfeiler, zurück zum Feuer. Sie zählt Atemzüge zum harten Schlag ihres Herzens, als könne sie damit eine eigene, schlichte Ordnung gegen die fremde Zeit der Halle setzen. Das Blätterraunen verstummt keinen Herzschlag lang; es kringelt und steigt in Tonhöhen, die menschlicher Rede unheimlich nah kommen, ein Dutzend halber Sätze von Angeboten und Gegenforderungen, vertraute Kadenz aus jenen Eidriten, die sie einst an verzweifelte Männer verkauft hat wie andere Messer.

Manchmal schält sich fast ein Sinn daraus: „Wenn du nur…“, „Im Tausch für…“, „Blut für Namen…“ – Formeln, die ihre Finger früher von selbst hatten greifen lassen zu Messer, zu Rune, zu Schale. Jedes Mal, wenn ein Fetzen Bedeutung scharf wird wie eine Klinge, legt sie die flache Hand fester gegen das rauhe Holz, spürt Splitter, Harz, kalte Feuchte, und hält daran fest, statt sich vorzubeugen zu dem, was die Halle ihr einflüstern will.

Beim dritten Mal, da ihm das Kinn gegen die Brust fällt, fährt Bernulf hoch, als hätte ihn jemand gestoßen. Ein leises Fluchwort rutscht ihm über die Lippen, zu rau für ein Kind, zu dünn für einen Mann. Er kriecht näher an Sigerhild heran, Kiefer vorgeschoben.

„Jetzt bin ich,“ sagt er, kaum lauter als das Knistern der Glut, doch mit einer Schärfe darin, als fordere er sie heraus, ihm vor den eigenen Leuten die Führung abzusprechen.

Der Eisenring an seinem Handgelenk hat die Haut darunter wund gescheuert; die Lederumwicklung ist dunkel vom Schweiß, als wäre etwas darunter am Sieden. Im flackernden Schein wirkt er für einen Atemzug nur wie ein übermüdeter Junge: das Haar zerzaust, die Augen gerötet, Schatten von Tränenrändern in den Winkeln.

Sigerhild lässt den Blick einen Herzschlag länger an diesem Gesicht verweilen, in dem sich Adelshärte und Kinderangst ungeschickt stoßen. Dann rutscht sie ohne Widerspruch zur Seite, gibt ihm den Platz an der Wurzel frei wie einen Stuhl in einem Rat, der ihm zusteht.

Beim Aufstehen streift ihr Blick über seine geschwollene Hand zum fernen, im Dunkel nur schemenhaft leuchtenden Oathstein. Ihre Finger zucken, als wollten sie nach seinem Ring greifen, ihn noch einmal zurückhalten. Stattdessen legt sie lediglich, im Vorbeigleiten, kurz zwei Finger an seinen Unterarm – ein nüchternes Gewicht, kein Trost.

„Nicht näher an den Stein,“ murmelt sie, gerade laut genug für ihn. „Nicht mit frischem Blut im Eisen. Und keine großen Worte heute Nacht.“

Ihr Ton ist sachlich, beinahe müde, doch in ihrem Blick liegt ein hartes Aufflackern, das er erkennt: nicht Bitten, sondern eine Warnung, wie man sie einem Untergebenen vor der Klinge eines unsichtbaren Messers gibt. Bernulf hebt trotzig das Kinn, als wollte er sagen, dass er schon wisse, was er tue – und lässt den Blick dann doch rasch von dem fahlen Schimmer des Steins zurück zum Feuer gleiten.

Seine erste Wache ist mehr Trotz als Ruhe; immer wieder fährt sein Blick zu dem schwarzen Spiegel eines halbverschlammten Beckens, wo das fahle Feuerlicht sich bricht wie ein krankes Auge, und zu dem geisterhaften Schimmer entlang der fernen Säulenreihe, als erwarte er, dass etwas daraus hervorschnellt. Einmal meint er, den Umriss eines Helms im Wasser zu sehen, einen Schatten, der nicht zu den Kindern gehören kann. Er kneift die Lider fest zusammen, bis nur noch das Flirren der Glut übrigbleibt. Allmählich wird sein Atem tiefer, nimmt den Takt des leisen Knisterns der Kohlen an. Als ein Windstoß ein frisches Rascheln von Blättern durch die Halle schickt, fährt Bernulf zusammen, die Finger zucken zum Ring – doch er zwingt die Hand hinab, stellt die Stiefel fester auf das wurzeldurchzogene Holz, legt die Finger spreizend an lebende Rinde statt an Eisen. In der Stille zwischen zwei Windstößen scheint der Hof ihn abzumessen wie ein Kläger vor einem alten Richter, dann flaut der unsichtbare Druck ab, das Raunen zieht sich ein Stück zurück, als richte sich die Aufmerksamkeit der Halle für einen Herzschlag auf fernere, dunklere Schulden.

Als die Glut schließlich nur noch wie ein dunkelblauer Bluterguss im kalten Aschebett schimmert und das falsche Dach aus Laub sich zu einem fahlen, bläulichgrauen Schein aufhellt, ist Sigerhild drei Mal aus kurzem Wegdämmern hochgeschreckt – jedes Mal mit trockenem Mund, jedes Mal Bernulf unverändert wach vorfindend, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen, die Augen klar, zu alt. Kein lautloses Raubtier hat sich zwischen den wolfbewachten Pfeilern hindurchgeschoben, kein flüsternder Handel hat ihnen bei einem unbedachten Atemzug die Zunge gekapert. Kein Stahl wurde gezogen, kein Blut geopfert, kein Wort in eine Form gegossen, die mehr bindet als sie tragen können. Als der erste dünne Hauch von Morgengrau durch die ineinandergekrallten Zweige sickert, verzeichnet Sigerhild ihn schweigend wie einen mageren, aber kostbaren Gewinn – ein Schritt, kaum mehr als ein Atemzug, doch einer, der nicht dem Hof, sondern ihnen gehört.

Beim ersten Mal zerreißt der Schrei die gedämpfte Luft so scharf, dass Sigerhilds Hand schon am Messer ist, ehe die Klinge selbst unter dem stummen Missfallen der Halle schwer wird und in der Scheide absackt wie ein müdes Tier. Der Junge fährt hoch, zu klein für den dunklen Fetzen, der ihn statt einer Decke bedeckt, Augen nach hinten geschlagen, als wolle er ins Laubdunkel über ihnen sehen, Finger krallend gegen Leere, als stemmte er sich gegen unsichtbare Speere.

„Weg! Weg, hab ich gesagt. Hinter ihm, entlang der geborstenen Säulenreihe, sind die geisterhaften Reihen der Eidkrieger dichter geworden: Schilde schließen an Schilde, helmbedeckte Köpfe senken sich, Speere ragen wie ein erstarrter Wald aus Schattenholz. Es ist kein bloßes Flimmern am Rand des Blicks mehr, sondern ein zitternder Zug bleicher Gestalten, auf der Stelle marschierend, als klammere die Zeit selbst ihre Schritte fest. Auf den Wolfsköpfen, die die Pfeiler krönen, glimmt ein kaltes Leuchten, als habe sich in die Steinaugen ein mattes Bewusstsein zurückgeschlichen.

Die Glut zu ihren Füßen fällt in sich zusammen, blaurote Flecken im Grauschwarz der Asche, als hielte die Halle den Atem an. Rauch ringelt sich nur noch niedrig, kann sich nicht recht entscheiden, ob er steigen darf. Der Geruch von feuchtem Moos und altem Blut tritt schärfer hervor.

Sigerhild friert im Halbschritt ein, spürt, wie ihr Herz wie ein fremder Vogel gegen ihren Brustkorb schlägt. Ein kurzes Bild fährt ihr auf: dieselben Ränge von Kriegern, aber lebendig, mit echtem Metallklang, als sie einst, jung und stolz im Priestergewand, zwischen solchen Hallen stand. Damals war das Raunen der Götter Rausch gewesen. Jetzt ist es ein Messer unter der Zunge.

Sie zwingt den Atem ruhig, zählt stumm – nicht aus Aberglauben, sondern um ihre Stimme von jeder Regung zu befreien, die die Hallenohren als Bitte deuten könnten. Die Schatten hinter dem Jungen sind nah genug, dass sie die Umrisse einzelner Runen an den Schildrändern zu erkennen glaubt, uralte Hauszeichen, von denen sie sicher ist, dass sie seit Menschenaltern nicht mehr offen geführt werden. Einer der Helme hebt sich kaum merklich, als lausche sein Träger in ihre Richtung, doch kein Schritt löst sich aus der verharrten Reihe.

Die Kinder ringsum sind reglos geworden wie Jungwild, das den Hund wittert. Einer der älteren Burschen tastet unwillkürlich nach einem Messergriff, flucht leise, als das Eisen so bleiern an seiner Seite hängt, dass er es kaum einen Fingerbreit bewegen kann. Ein Mädchen hat den Saum von Bernulfs Mantel gepackt, die Fingerknöchel weiß, die Augen weit aufgerissen zum Kriegerzug hin, ohne zu blinzeln.

Im dumpfen, blauschwarzen Licht wirken die eidgebundenen Schatten, als wüssten sie selbst nicht recht, ob sie noch an dieses Holz und diesen Stein gebunden sind oder schon dem Nichts gehören. Ihr regloses Warten drückt schwerer als jeder Ansturm; es ist die Stille vor einem Urteil, nicht vor einem Kampf.

Sie spricht ihr eigenes Erschrecken nicht laut aus; der bittere Eisengeschmack der blutig gebissenen Zunge reicht ihr als Mahnung an die Strafe des Steins für leichtfertige Worte. Stattdessen fährt sie in die Bewegung, die sie kennt wie ein Gebet: Sie fängt Bernulfs Handgelenke ab, drückt sie sanft, aber unerbittlich auf die moosglatten Platten nieder, fort vom Ring, fort von der Versuchung, nach dem Eisen zu greifen.

„Zähl deinen Atem“, befiehlt sie, die Stimme flach und geschliffen wie kalter Stahl, ohne Trost, an dem der Hof sich festsaugen könnte, nur Befehl. „Ein beim Einatmen. Zwei beim Ausatmen. Noch einmal. Laut.“

Er stolpert über die ersten Zahlen, atmet zu hastig, und sie verstärkt den Druck ihrer Finger, bis er stockt und von vorn beginnt, hörbar, messbar. „Weiter.“

Dem Mädchen, das wie angewurzelt an den bröckelnden Eichenbogen gepresst ist und Bernulfs Mantelsaum umklammert, fährt sie knapp zu: „Namen. Die du vertraust. Nur die Namen, sonst nichts.“

„Tilda… Jorg… Mutter Alheida…“ Die Stimme des Mädchens zittert, doch jedes Wort fällt einzeln, wie ein Stein, der nicht rollen darf. Ein weiterer Junge setzt stockend mit ein, flüstert die Namen seiner kleinen Brüder, eines verschwundenen Vaters; ein Dritter presst nur den eigenen Namen zwischen die Zähne, wieder und wieder, bis er heiser wird.

Sigerhild lässt die Kette der Silben wie grobe Perlen im Hintergrund laufen und hält den Blick auf den geisterhaften Kriegerzug gerichtet. Erst als ihr eigenes Pochen in den Schläfen sich dem Rhythmus von Bernulfs Atem anpasst, merkt sie, was sie vorhin im Schreck übersehen hat: Sie rücken nicht vor.

Schild an Schild, Speerschatten an Speerschatten, stehen sie wie eingefroren, keine Reihe bricht, kein Schildrand zuckt. Sie warten, begreift sie, kühl und nüchtern mitten durch die Angst hindurch, als harrten sie auf ein Kommando, das nie gegeben wurde – oder auf eines, das ein falscher Mund leichtfertig neu sprechen könnte. Unter einigen Helmen sind dort, wo Augen gewesen sein sollten, nur hohle, dunkle Löcher, in denen ein stumpfes, hungriges Glimmen liegt wie in Altären, denen man zu lange kein Blut mehr gebracht hat.

Der zweite Ruck kommt leiser, doch schneidender. Später – Minuten oder Stunden, in dieser falschen Nacht verliert die Zeit ihr Maß – zuckt Bernulfs Hand, als habe ihn ein unsichtbarer Schlag getroffen; der Eidring unter Leder und Runenschnur glimmt plötzlich dumpf auf, ein stumpfer, zorniger Brand. Er saugt die Luft ein, Schultern hart wie gehämmertes Eisen, der Kiefer so eng geschlossen, dass Sigerhild sieht, wie ein Fluch, ein halbfertiger Schwur, gegen seine Zähne stößt und zurückfällt. Sein Blick hängt an einem leeren Punkt zwischen zwei Säulen, Pupillen weit, weit, mit einem panischen Schwarz, das er seinen Läufern in den Gassen von Waldheim niemals zeigen würde.

„Es ist schon beschlossen“, haucht er, mehr in sich hinein als zu ihr, doch der Hof regt sich beim Laut der Worte; die Schatten an den wolfsgekrönten Säulen ziehen sich schärfer, als beugten sie sich vor, um besser zu hören, und irgendwo tief im Gemäuer knackt es, als streckte ein alter Eid die Knochen.

Bevor aus der gehauchten Furcht ein Flehen oder Schwur werden kann, rückt Sigerhild näher und schlägt mit den Knöcheln hart gegen das lebende Holz des Bogens über ihnen. Der Laut ist dumpf, aber wirklich, ein kleiner Trotz gegen das hallende Fast‑Schweigen.

„Hier“, sagt sie, packt Bernulfs zitterndes Handgelenk und zieht seine Handfläche an die raue Borke statt auf den steinernen Boden. „Fühl. Zähl die Rillen.“ Ihr Ton ist nur Befehl, scharf geschnitten, ohne jedes Versprechen: „Du bist nicht tot. Du bist nicht gerichtet. Benenn, wo du bist.“

Rings um sie lässt sie die anderen Kinder die Geste nachahmen – Handflächen an Holz, Fingerspitzen, die Astnarben und Risse nachfahren –, bis das Rascheln ihrer kleinen Bewegungen, ihr murmelndes Zählen einen eigenen, sterblichen Takt gegen den langsamen, fremden Pulsschlag der Halle bildet, als hätten sie ein winziges Stück Zeit an sich gekettet.

Jedes Mal, wenn die Panik wie eine Welle hochschlägt, kneift sie den Mund zusammen und verschluckt den leichten Trost: kein „Es wird gut“, kein „Hier kann euch nichts geschehen“, das der Stein ihr als Eid aus dem Fleisch schneiden könnte. Stattdessen jagt sie ihre Worte wie Pflöcke in die Gegenwart: „Rinde. Kälte. Atem.“ Der Biss der Luft in den Lungen, das Brennen der Fingerkuppen an der spröden Borke, das klamme Knistern des kümmerlichen Feuers – das sind die einzigen Wahrheiten, die sie ihnen zugesteht. Sie lenkt Blick und Zunge weg von Zukunft und Bitte, hält sie fest in Tastsinn, Zahl und Namen, bis das Zittern in Schultern und Kiefern nachlässt und der Heereszug an den Säulen wieder zu blassen Schmieren aus Schatten verkommt. Erst als der Chor der heiseren Kinderstimmen abebbt, merkt sie, dass auch ihr eigenes Herz nicht mehr wie ein Opferhammer schlägt; sie lässt das letzte, glimmende Scheit im Ring aus kalter Asche liegen und nimmt es hin als das Einzige, was sie zu versprechen wagt: nur diese Nacht zu überstehen, nichts darüber hinaus.

Die Luft ist noch voll von den Flüstern der Nacht, schwer und schmierig wie kalter Rauch, doch jenseits der zerbrochenen Bögen hat der Wald sich zu einem wässrigen Grau aufgehellt, gerade hell genug, um die fahle Blässe in den Gesichtern der Kinder zu zeichnen. Unter ihren lidrig gewordenen Augen liegen dunkle Schatten, die nicht nur von Müdigkeit sprechen, sondern von zu vielen Bildern, die sich in ein kindliches Hirn nicht fügen wollen: die Heereszüge aus Schatten, das heimliche Glühen des Rings an Bernulfs Hand, das dumpfe Pochen des Steins.

Sigerhild fährt zusammen, als ein kühler Luftzug durch die gerissenen Hallenranken streicht und die Asche des verloschenen Feuers in einem leisen, trockenen Seufzer aufwirbelt. Sie drückt das Zittern mit einem knappen Atemzug hinunter, stemmt die Hand gegen den Boden und richtet sich auf. Jeder Muskel murrt, als hätte sie eine Nacht lang in Ketten gelegen, nicht unter Kindern und Wurzeln. Die Schulter auf der Seite, mit der sie die Stufen des Steins berührt hat, brennt dumpf; der Schmerz sitzt nicht in der Haut, sondern tief im Knochen, wie ein langsames, unwilliges Schreiben. Es fühlt sich an, als kratze noch immer eine unsichtbare Klinge Zeichen in sie, als prüfe der Hof Zeile um Zeile ihrer verschwiegenen Sünden und wägt, was davon Anspruch erheben darf.

Sie rollt die Schulter, bis ein leises Knacken sich vom Schmerz löst, öffnet und schließt die Finger, bis kaltes Prickeln in die tauben Glieder zurückkehrt. Bei jedem Zucken benennt sie das Brennen stumm: Folge. Nicht Befehl. Ein Preis, den sie gezahlt hat, nicht ein Joch, das man ihr neu anlegt. Sie denkt an Nächte in Waldheim, an geheime Kulträume über Schenken, wo sie für Silber und Blut Schwüre segnete, deren Bruch andere zu Tode richtete. Damals hatte sie gelernt, ihre eigene Furcht in eine Ecke des Herzens zu stellen, um mit ruhiger Stimme Opfermesser zu führen.

Mit derselben Härte legt sie nun diesen Knochenbrand ab. Er ist da, er wird sie nicht so bald verlassen, doch er bestimmt nicht ihren Schritt. Sie richtet den Rücken, schiebt den Saum ihres abgetragenen Mantels über die verräterische Stelle, als könnte sie den Blicken des Hofs selbst die Spur nehmen, und hebt den Kopf. Ihre Augen suchen nicht den Oathstein, nicht die Schatten an den Säulen, sondern die kleinen, dünnen Körper, die sich noch aneinander und an Wurzelwerk klammern. Was in ihr geschrieben wird, mag sie später lesen. Jetzt zählt nur, dass sie atmen.

Sie schlägt einmal in die Hände, trocken wie ein Peitschenhieb, und schneidet damit durch den klebrigen Rest aus Schlaf und Furcht. „Auf.“ Mehr nicht; kein „Dann wird es besser“, kein „Stehen ist sicherer“.

Einer nach dem andern rappeln sie sich hoch, blinzelnd, mit verknitterten Gesichtern und Kniegelenken, die stärker zittern, als ein Kindergelenk sollte. Sigerhild geht zwischen ihnen hindurch wie ein Feldweibel und Bader in einer Person: zieht einen Rücken gerade, schiebt eine Schulterblattschaufel nach hinten, streicht mit Daumenknöcheln über verkrampfte Nacken, bis ein erschrockenes Einatmen den Knoten löst. „Arme“, sagt sie, „hoch. Kreisen.“ Sie macht die Bewegung vor, langsam genug, dass jeder Wirbel knackt und jeder Muskel seinen Namen fordert. „Fersen vom Boden. Gewicht vor. Atmen. Zählen.“

Die Kinder folgen, manche mit Zähneknirschen, manche mit trotzigem Schnaufen; und während sie ihre steifen Glieder zwingen, lenkt das Brennen in Waden und Seiten die Blicke weg vom Oath‑Stone.

Eine einzige Wasserhaut geht von Hand zu Hand. Sigerhild zählt stumm die Schläge ihres eigenen Herzens zwischen den Zügen, nickt, wenn es genügt, tippt einem zu langen Trinker mit zwei Fingern gegen das Handgelenk. „Weiter.“ Kein Segen, kein Wunsch darin, nur die nüchternen Verben des Fleisches: trinken, atmen, stehen, gehen. Alles, was sie hier gefahrlos befehlen darf.

Als die ersten, heiseren „Und jetzt?“-Fetzen zwischen den Zähnen hervorrutschen, fängt sie sie ab, bevor daraus Bitten oder Pläne werden können, die der Hof aufgreift. „Nur heute“, sagt sie, und lässt den Blick langsam von Gesicht zu Gesicht wandern, als nähme sie jedes mit einem Finger vom Rand eines Abgrunds zurück. „Nur diese Helle. Sagt eines, das ihr tun wollt, bevor’s wieder dunkel ist. Kein Schwur. Kein Für‑immer. Nur, wofür diese Stunden taugen.“

Sie hält die Hände bewusst unten, die Finger gespreizt wie beim Ausnehmen eines Hasen, nichts von Gestus oder Segenszeichen darin. Ihre Stimme ist stumpf und rau wie Schankhausprosa, doch unter jedem Wort spürt sie das gespannte Horchen der Hallen, als wollten sie jeden Hauch von Rhythmus, jedes unbedachte „so sei es“ gierig als Anrufung verschlingen.

Das erste Mädchen, sommersprossig, den Leib fast verschluckt von einem zu großen, ausgeleierten Mantel, kaut einmal auf der Unterlippe, dann stößt sie hastig hervor: „Ich halt Wacht, wann du’s sagst. Und ich… ich schlaf nicht ein dabei. Nur heut.“ Ein Junge daneben brummt, er wolle den gerissenen Riemen seines Beutels flicken, „eh die Sonne ganz hoch ist, versprochen“ – beim letzten Wort zuckt Sigerhild kaum merklich, und er fügt stockend hinzu: „Ich mein: ich nehm mir’s vor.“ Der dritte setzt an, von „Gelöbnis“ ist beinahe die Rede, doch das eigene Schreckenswissen fährt ihm in den Nacken; er räuspert sich und ändert es zu: „Ich seh mir vor dem Dunkel noch mal die Binde von meinem kleinen Bruder an. Nur das.“ Sigerhild hört zu, zählt innerlich jede Silbe, nickt, wenn die Sätze klein bleiben und bodennah, und biegt sie sachte gerade, sobald ein „immer“ oder „nie mehr“ den Mund der Kinder sucht. Mit jedem dieser schlichten Vorhaben spürt sie, wie das drückende Lauschen der Hallen an ihnen vorbeigleitet, den Haken verliert an Zielen, die zu kurz und zu menschlich sind, um einen Ort zu locken, der für Blutseide und Geschlechterbünde gebaut ward.

Zuletzt ist Bernulf an der Reihe. Er redet nicht sie an, sondern den silberaderigen Leib des Steins jenseits der Stämme, als müsse der ihn hören. Der Eisenreif baumelt zu schwer an seinem schmalen Handgelenk, das Leder darunter schwarz von altem Schweiß und frischer Kruste.

„Heut“, sagt er, jedes Wort einzeln abgewogen, „sorg ich, dass die Meinen essen. Und dass sie nicht geholt werden, nicht verlaufen, bis’s wieder dunkel ist. Nichts drüber hinaus.“

In einem Fürstensaal klänge das wie Kleinmut, fast wie Geiz. Hier aber spürt Sigerhild die Schneide darin: ein Herrenwille, dünn geschliffen auf einen einzigen Tag, auf Brot und Unversehrtheit, mehr fordert er der Welt nicht ab.

Der Ring an seinem Arm wird warm, nicht heiß; ein kurzes Pulsen, dann wird er stumpf und kalt wie zuvor. Kein Zuziehen des Metalls, kein dumpfes Stechen am Knochen. So still, wie der Hof ihn mustert, so still gewährt er. Kein Beifall, kein Bersten alter Fäden – nur ein raues, widerwilliges Einrücken: Dies lass ich dir.

Es ist keine Lösung, kein Spalt im Fluch, kein aufglimmender Ausweg. Und doch, während Bernulf die Hand sinken lässt, ahnt Sigerhild, was er sich genommen hat: einen schmalen, sterblichen Streifen Entscheidung, den diese Hallen nicht ohne weiteres in ihre Blutgeschichten einweben können. Ein Tag, der ihnen und keinem Gott gehört.


Truth Under the Canopy

Sigerhild sends the smallest runners to rouse the rest, voice low but edged with a clerk’s final notice, and soon a ragged procession of pouches, satchels, and bundled cloaks is dragged into the circle of their bluish, reluctant fire. She wipes soot from her fingers onto her robe, then kneels on the cold stone as if before an altar, laying out a strip of leather to keep crumbs and coins from vanishing into the cracks. The children hover at the edge of the light, eyes flicking zwischen ihren Händen und dem drohend aufragenden Eidesstein, als könnte jede Lüge über ihren Besitz nicht nur ihren Zorn, sondern Blut aus Nase und Augen herabrufen.

Bernulf bleibt nicht bei den anderen stehen, sondern tritt halb in den Schein, halb im Schatten. Der Ring an seinem Handgelenk ist kalt und schwer, doch irgendwo in der Tiefe pulst er im selben Takt wie die Flammen, als erkenne er die Geste der Aufstellung. Er zieht seinen eigenen Beutel hervor, zögert einen Herzschlag lang, dann löst er die Lederschnur mit einer ruckhaften, trotzig wirkenden Bewegung.

„Alles. Jetzt“, sagt Sigerhild, ohne aufzusehen. Ihre Stimme ist nicht laut, aber das Hallen in der hölzernen Weite macht sie größer, als sie ist.

Ein Mädchen mit gespaltenem Ohr hält ihren kleinen Vorrat an Brot fester. „Wenn wir’s hergeben, Herrin…“, beginnt sie.

„Ich bin keine Herrin“, fällt Sigerhild ihr leise ins Wort. „Nur die, die zählt. Behalten könnt ihr, was ihr benennen könnt, wenn ich frage. Was ihr verbergt und später fehlt, frisst euch mehr als mein Grimm.“

„Ist das ein Eid?“ Ein älterer Junge, mit blauem Fleck unter dem Auge, späht misstrauisch zum Stein.

Sigerhilds Blick streift kurz die silberäderigen Runen im Hintergrund. „Nein“, sagt sie nach einer Sekunde zu langer Pause. „Nur eine Warnung.“ Sie achtet sorgsam darauf, den Stein weder anzusehen noch zu berühren, als sie die erste Tasche öffnet.

Bernulf schnaubt leise. „Sie meint, sie lügt nicht offen“, murmelt er, mehr zu seiner eigenen Schar als zu ihr. „Also tut, was sie sagt.“

Ein raschelndes, widerstrebendes Kollektivgeräusch geht durch den Kreis, als kleine Hände Beutel öffnen, geheime Falten in Mänteln lösen, aus Stiefelschäften hart ergaunerte Äpfel ziehen. Etwas Kupfer blinkt matt im flackernden Blau, ein Messergriff, eine Nadel, ein verbogenes Amulett ohne Gott.

Sigerhild streckt nur die Hände aus. „Legt es hierher. So wie ihr’s tragt. Ich frage später nach Herkunft.“ Ihre grauen Augen sind kalkulierend, doch sie verwebt in den Ton etwas, das fast Fürsorge sein könnte. „Heute zählt nicht, wem es gehörte. Nur, ob es uns bis übermorgen bringt.“

Der Rauch ihrer mageren Flamme kringelt sich träge empor und legt sich wie ein dünner Schleier zwischen sie und die dunklen Gewölbe der verflochtenen Äste. Über ihnen knarrt leise ein Ast, als rutsche unsichtbar Gewicht darüber hinweg, und für einen Augenblick haben alle das Gefühl, als würde die Halle selbst sich vorbeugen, neugierig auf das, was sie offenlegen – und auf das, was sie verschweigen.

Sie arbeitet sich mit tempelgeübter Gründlichkeit von links nach rechts durch die ausgelegten Habseligkeiten, als sei jede Tasche ein eigener kleiner Altar. Zuerst die Wasserschläuche: sie wiegt sie in den Händen, dreht sie kurz, horcht auf das matte Glucksen, dann zieht sie die Stöpsel mit einer knappen Drehung. Ein kurzer Zug mit der Nase – kein gäriger Stich, nur der dumpfe Geruch von Bachwasser und Leder.

„Halb geleert“, murmelt sie, nicht tadelnd, nur feststellend, und stellt jeden Schlauch in eine saubere Reihe, fern genug vom Feuer, nah genug, dass alle sie sehen. Das Wort hängt einen Atemzug schwer in der Luft; einige Kinder lecken sich unwillkürlich über trockene Lippen.

Dann das Brot: hart wie Stein, aus Tuchen geschüttelt, bröselt es auf ihre Handfläche nieder – Staub, Krümel, schief gebrochene Stücke. Dörffleisch und Beeren folgen, nach alter Gewohnheit in Tage und halbe Tage sortiert, ihre Lippen bewegen sich lautlos in einer Zählung, die eher an Gebet als an Rechnung erinnert. Angstdurst in der Nacht und der gehetzte Marsch haben mehr gefressen, als sie übrig hatten. In ihrem Kopf fügen sich die Zahlen zu einem unerbittlichen Urteil: zwei vorsichtige Tage, wenn niemand fiebrig wird. Weniger, wenn die Kälte der Halle ihnen in die Knochen kriecht und der Wald ihnen noch einen Umweg abpresst.

Bei den persönlichen Geheimvorräten mildert Sigerhild nur den Klang ihrer Stimme, nicht die Art. Sie ruft jedes Kind nacheinander vor, doch sie sagt nicht: „Schwör, dass du nichts mehr hast“, denn der Hall selbst würde sich daran klammern wie an ein dargebotenes Seil. Stattdessen: „Zeig mir, was ich von dir wissen soll, dass du hast.“ Die Formulierung kreist um den Eid wie ein Wolf um eine Grube, ohne hineinzufallen, und lässt doch wenig Raum für Trotz.

Aus Stiefelfuttern schälen sich geschmuggelte Krusten, aus einem zerschlissenen Ärmel rollt ein schon angestoßener Apfel, aus einem bis zur Verfilzung geflochtenen Haarknoten löst sich ein schmaler Streifen Käse. Jedes Stück landet auf dem Lederriemen unter dem Gewicht ihres ruhigen, erwartenden Blicks. In Gedanken zeichnet sie alles nach, wie einst die Abgaben der Tempelpflichtigen – nur dass es jetzt magere Handgelenke und hohle Wangen sind, die sie prüft, und jeder fehlende Bissen in ihren Berechnungen ein möglicher Kranker oder Toter. Hinter ihren Lidern schiebt sich das alte Bild von übervollen Opferplatten in die Gegenwart dieser armseligen Auslage; der Kontrast brennt wie kaltes Eisen, doch ihre Hände bleiben gleichmäßig, fast priesterlich, in ihrer Arbeit.

Bernulf steht länger abseits, das Kinn trotzig vorgeschoben, während seine Leute nacheinander ihre Schätze preisgeben. Man sieht ihm an, wie der alte Reflex, immer etwas zurückzuhalten, gegen den neuen Druck in seinem Ring anrennt; die Runen darin summen dumpf, als mahnten sie zu offener Rechnung. Schließlich tritt er vor, langsamer, als es einem Bandenhaupt gut anstünde, und legt seinen eigenen Bund in die Lücke zwischen Brotkrümeln und Flickzeug.

Ein kleiner Lederbeutel fällt zuerst, das matte Klinken des Kupfers darin klingt im gedämpften Hall fast ungehörig laut. „Zollgeld, Bestechung, Fluchtweg“, murmelt er knapp, als wolle er dem Klang sofort eine Ordnung aufzwingen. Danach folgt ein handgroßes Messer, nüchtern, gut ausgewogen; er fährt mit dem Daumen prüfend an der Schneide entlang, zuckt kaum, als ein roter Strich aufblitzt, und lässt es dann mit der Schneidkante von sich weg liegen – ein stiller Hinweis, dass es hier gerade mehr Werkzeug als Waffe sein soll.

Zuletzt holt er etwas hervor, das er instinktiv dichter am Körper gehalten hat als das Metall: Wachstafel und Stilus, die Kanten vom vielen Ansetzen rund geschliffen, die Oberfläche übersät mit eingedrückten Linien, halbfertigen Karten, Zahlenreihen und Namen, die nur er voll entziffern kann. Einen Moment lang scheint er das Ding wieder einstecken zu wollen; dann, unter Sigerhilds ruhigem Blick und dem dumpfen Pochen im Ring, legt er es doch so weit nach vorne, dass jede und jeder den unscheinbaren Wert begreifen könnte.

Sein Kiefer arbeitet, als müsse er Worte zerbeißen, ehe sie herausdürfen. „Das ist, womit ich die Wege bewege“, sagt er schließlich, nicht laut, aber deutlich. Kein Versprechen, es zu teilen; kein Anspruch, es allein zu halten. Nur eine Markierung des schmalen Streifens zwischen seinem persönlichen Druckmittel und dem, was die Gruppe braucht, um den nächsten Handel überhaupt noch führen zu können.

Gemeinsam schieben sie das Sammelsurium in grobe Ordnungen: Verbände, noch weiß genug, dass man ihnen Wunden anvertrauen kann; Kräuter, die weder stockig noch schimmlig riechen; zwei Nadeln, stumpf an der Spitze, doch noch fähig, Fleisch und Stoff zu fügen; drei Ersatzmäntel, aus denen man, zerschnitten und neu vernäht, vielleicht fünf dürftige machen könnte. Eine Handvoll Waffen bleibt übrig, Klingen, die der leise Rosthunger der Halle noch nicht ganz zerfressen hat. Sigerhild prüft jedes Messer, jeden Stab mit der flachen Hand, spürt, wie sie schwerer werden, je näher sie den hallenden Bögen kommt, wo das Grauen wie unsichtbarer Tau in der Luft hängt, und denkt bereits in möglichen Pfändern, nicht in Schlägen. „Jedes Stück ist ein Versprechen, das nur auf einen Namen wartet“, sagt sie leise, mehr zu sich als zu den Kindern; beim Wort „Versprechen“ zuckt Bernulfs Blick unwillkürlich zum silberadern durchzogenen Oathstein hinüber, und der Ring an seinem Handgelenk antwortet mit einem kaum hörbaren, dröhnenden Summen. Als sie sich endlich erheben, ist ihre Armut vermessen und geschichtet – nicht bloß als Vorrat, der aufgezehrt werden muss, sondern als Spielsteine in einem Handel, den die Gefallene Halle ihnen aufzwingen will.

Sigerhild treibt die jüngeren Läufer mit knapper Handbewegung an den gedämpften Rand des Feuerkreises, dorthin, wo das bläuliche Flackern gerade noch Gesichter aus der Dunkelheit schält. „In Sichtweite“, sagt sie, und braucht nicht zu drohen; die Halle übernimmt das für sie. „Kein Schritt weiter. Wenn ich dich rufen muss, tust du morgen Wache ohne Decke.“ Die Drohung ist alltäglich genug, dass sie nicht in den Oathstein greift, doch der Unterton lässt keinen Zweifel.

Dann beginnt sie ihren zweiten Umgang um das Lager, enger, präziser. Sie zählt Schritte, halblaut, die Zunge trocken am Gaumen: sieben vom Feuer bis zur erstarrt verdrehten Wurzel, fünf weitere bis zu dem halb eingestürzten Pfeiler, dessen Runen sich unter Flechten verbergen, elf bis zum gespaltenen Steinblock, der wie ein verstümmelter Altar im Laub liegt. Mit jedem Schritt tastet sie den Boden, die Luft. Der Rundstab in ihrer Hand kratzt eine feine Spur in die feuchte Streulaubdecke, keine geschlossene Linie, eher vereinzelte Striche, als wolle sie den Ort nicht zu sehr reizen.

Dort, wo die Luft weniger schwankt, wo Klang und Atem sich gleichmäßiger halten, zieht sie unmerklich breitere Bögen – ein angedeuteter Ring, in dem sie die Kinder später halten will, wenn der Schlaf sie unvorsichtig macht. An Stellen, wo ihr eigenes Atmen plötzlich dumpfer klingt, als spräche sie durch Wolle, oder wo das leiseste Rascheln sich weithin zu tragen scheint, hält sie inne, tupft mit rußigem Daumen ein unscheinbares Zeichen an Rinde oder Stein. Kein Laut begleitet diese Markierungen; sie sind nur für ihre eigenen Augen, und für die Götter, falls diese hier noch auf solche Kleinigkeiten achten.

Manchmal bleibt sie stehen, ohne ersichtlichen Grund, dreht das Gesicht leicht gegen den kaum vorhandenen Wind. Der Druck im Innern ihrer Ohren verändert sich, als stünde sie an der Schwelle eines unsichtbaren Tores; das Feuer im Rücken zuckt in diesem Moment, wird kleiner, blasser, um bei ihrem nächsten Schritt wieder aufzuleben. Sie merkt sich genau, an welchen Rissen der lebenden Wände dieses Flackern einsetzt: Spalten zwischen verwachsenen Ästen, wo kein ordentlicher Schatten hingehört, feine Fugen im Stein, aus denen kein Moos wächst. Dort fühlt sie das leise Zerren der alten Zauber am Rand ihres Bewusstseins, wie Fingernägel, die an einem Schildrand kratzen.

In ihrem Kopf legt sich all dies zu einer anderen Karte über Bernulfs Wachstafel: keine Wege und Fluchtgassen, sondern Strömungen, Wölbungen, Löcher im Gewebe der Halle. Mit jedem abgemessenen Schritt bestätigt oder verwirft sie alte Tempellehren über Ley-Linien und Gerichtskreise, richtet sie an dem aus, was ihre Haut hier wirklich spürt. Zweimal kreuzt sie denselben umgestürzten Pfeiler; beim ersten Mal scheinen die Geräusche des Lagers dahinter zu verhallen, als lägen Meilen dazwischen, beim zweiten Mal bohrt sich der Klang eines hustenden Kindes so scharf in ihre Schläfen, dass sie die Zähne zusammenbeißt.

„Du bist launisch, alte Halle“, murmelt sie kaum hörbar, den Blick auf die silbernen Adern in der Ferne gerichtet, wo der Oathstein im Halbdunkel glimmt. „Aber Launen haben ein Muster.“ Der Stab fährt noch einmal durch das Laub, vollendet den unsichtbaren Kreis um ihr notdürftiges Lager. Als sie zum Feuer zurücktritt, kennt sie nicht nur jede Wurzel, an der ein Kind stolpern könnte, sondern auch jeden unscheinbaren Riss, durch den ein Wort zu weit in diese Hungerstille hineinfallen würde.

Bernulf kommt lautlos herüber, mehr Gleiten als Gehen, und bleibt einen Herzschlag lang neben ihr stehen, als wolle er prüfen, ob sie ihn wirklich gerufen hat oder ob der Ring ihn schiebt. Sigerhild sagt nichts, reicht ihm nur ein rußiges Kohlstück und deutet mit dem Kinn auf eine flache, moosblinde Steinplatte am Rand des Lagers. Dort hat sie mit der Stockspitze bereits grob den Umriss der nahen Bögen und Säulen geritzt; zwischen seine gedrängten Zeichen für Deckung und Fluchtgassen zwingt sie nun eine zweite Schicht.

„Hier.“ Ihre Stimme ist rau. „Wo der Blick stolpert.“ Unter ihrer knappen Anweisung setzt Bernulf kleine, scharfe Zeichen: geknickte Striche, wo der Schimmer so dicht wird, dass das Auge ins Leere greift; eingekerbte Kreise, wo in ihren Knochen das leise Brummen der gewaltlosen Hallengesetze am stärksten nachklingt. Er verzieht den Mund. „Das sind die schnellsten Wege“, murrt er, als sie mit dem Fingernagel eine seiner geraden Linien durchschneidet.

„Schnell in den Schlund“, entgegnet sie leise, und ihr Blick streift den fernen Oathstein und die geschwärzten Becken. „Die Götter lieben es, wenn wir in schönen Geraden laufen. Ich nicht.“

Er beugt sich dichter über den Stein, Schatten fallen ihnen beiden ins Gesicht. „Wenn wir die Kinder breiter führen, reißen uns die Erwachsenen auseinander“, zischt er, kaum über Flüstern. „Hier sind sie eng genug, dass ich sie zählen kann.“

„Eng genug, dass ein Stoß sie alle gegen den Stein treibt“, gibt sie zurück, und es liegt mehr Müdigkeit als Spott in dem Satz. „Ich will Linien, die brechen können. Wege mit Seitentüren. Kein Schritt, der uns zwingt, hier noch ein Wort zu schwören.“

Der Ring an seinem Handgelenk kriecht kalt unter das Leder, und er spürt dumpf, wie der neue Schwur von vorhin sich rührt, als prüfe er diese Planung. Widerwillig knickt er eine seiner markierten Fluchtachsen ab, zeichnet einen Haken um ein eingezeichnetes Becken. „Also hier durch den Schatten der Galerie“, brummt er. „Länger. Mehr Deckung. Aber wenn einer fällt, “

„: dann fällt er nicht in den Mund der Halle“, schneidet sie ein. Ihre Fingerspitze ruht einen Moment auf einem ihrer eigenen Zeichen, einem kaum wahrnehmbaren Kringel nahe einem Riss in der Wand. „Und hier… hier flüstert etwas. Kein Durchgang in der Nacht.“

Sie beugen sich dicht über die improvisierte Karte, zwei verschiedene Ordnungen, die sie übereinander zwingen: seine rauen Striche für Tempo, Druck, Jagd; ihre feinen Haken für Strömungen, Stille, unsichtbare Kanten. Die Diskussion bleibt gedämpft, ein stetiges Hin und Her aus „zu offen“, „zu nah am Stein“, „zu leise“, „zu langsam“, bis der moosige Stein unter ihren Knien kalt durch den Stoff beißt und die Linien ein gespannter Kompromiss werden, der weder dem Ring noch der Halle ganz gefällt.

Um die Launen der Halle zu reizen, sucht Sigerhild einen fauligen Ast aus dem Haufen, wiegt ihn kurz in der Hand und schleudert ihn in eine der schmalen Gassen zwischen den wolfsbewachten Pfeilern. In der Mitte des Bogens stößt das Holz gegen etwas, das kein Auge sieht: Es zuckt in der Luft, fällt zu kurz, schrammt seitlich davon, als habe eine unsichtbare Hand es weggestupst. Ein zweiter Wurf, flacher, mit einem halb gesprochenen Altvers unter dem Atem, gleitet weiter, fast sauber hindurch; gleichzeitig kribbelt es scharf in den feinen Narben über ihren Brauen.

Bernulf verfolgt mit zusammengekniffenen Augen jeden Sprung. „Hier mag sie Worte“, murmelt er, „dort nicht.“ Er ritzt mit dem Kohlstück kleine Haken und Bogen in ihre Steinzeichnung: Winkel, an denen eine gerade Linie sich wie von selbst zum Halbkreis biegt; Engen, wo der eigene Schritt plötzlich schwerer wird, als laufe man stromauf.

Zweimal lässt er ein stumpfes Messer probeweise an einer eingezeichneten Flanke entlanggleiten. Beim ersten Mal kippt die Klinge unwillkürlich in den Boden, beim zweiten zerrt ihr Gewicht gegen seinen Griff, als wolle sie aus der Hand. Sie tauschen einen kurzen, harten Blick und setzen stumme Zeichen an diese Punkte – Stellen, an denen ein anrennender Feind mehr mit seiner eigenen Waffe ringt als mit ihnen.

Als sie zum Feuer zurückkehrt, kniet Sigerhild im schwachen Blau und kratzt mit dem Stock einen vereinfachten Grundriss in die Erde: drei klare Ausgänge, zwei Engen, die sie mit Stäben statt Klingen halten können, und verstreute Mulden, wo Verwundete zwischen Wurzeln und geborstenen Säulen liegen, ohne den launischen Bögen zu nahe zu kommen. Bernulf, die Kiefer hart gespannt, schiebt Steinchen und Aststücke: „Die Schnellsten hier“, murmelt er, dicht am Rand, wo ein Ruf sie weckt und sie in Sekunden in den Laufgassen stehen. „Die Kleinsten dort, unter Holz, das fällt, bevor Stahl sie findet.“ Er markiert mit einem Strich, wo die am wenigsten zerfressenen Messer stecken sollen, griffbereit, aber so, dass keiner im Schlaf über eine unsichtbare Grenze tastet, die die Halle im Zorn ausnutzen könnte.

Erst als sie die gezeichneten Linien noch einmal schweigend abschreiten – jedes Kind einzeln an der Hand, hier hingestellt, wo es im Fall zurückweicht, dort festgehalten, wo kein Schritt hinführt, und an den Wegen vorbeigeführt, die erst öffnen, wenn Sigerhild selbst das Wort gibt –, lassen sie sich mit dem Rücken an eine runenrauhe Rinde sinken. Die Gefallene Halle liegt nun wie ein Gespinst in ihren Köpfen: Gassen, die Tempo erlauben, nur um mitten im Lauf zu verraten; Durchlässe, die nur mit leeren Händen gehorchen; Nischen, die bergen, solange niemand schwört. Mit dieser geteilten Karte zwischen ihnen beginnen sie leise zu benennen, nicht nur wie sie sich hier bewegen, sondern was sie in welchem Atemzug töten kann.

Mit der Stockspitze zieht Sigerhild einen groben Kreis in die Asche vor ihren Stiefeln, schwerer und dunkler als die anderen Linien. „Das ist kein Altarstein“, sagt sie leise, „sondern ein Ohr.“ Sie vertieft die Rille, bis feuchter Boden durch das Grau bricht. „Er hört, nicht nur wenn du schwörst. Er hört, wenn du murmelst: ‚Schon gut‘, oder: ‚Ich kümmer’ mich.‘“

Sie tippt dreimal in den Kreis, jedes Mal etwas härter. „Solche Worte sind hier keine Höflichkeit. Sie können hart werden wie Eisen. Ein Trost, im falschen Atemzug gesprochen, wird hier leicht zum Auftrag.“

Bernulf schnaubt leise, doch sein Blick hängt an dem dunklen Ring in der Erde. „Ich hab’ schon schlimmere Versprechen gebrochen“, versucht er, doch die Stimme trägt keinen Spott.

Sigerhild hebt den Kopf, sucht sein Profil im flackernden Blau. „Als du vorhin an dem Stein standest“, murmelt sie, „und groß getan hast: ‚Ich sorge für alle, keiner hungert mehr, solange ich atme‘ – hast du gespürt, wie der Reif sich gemeldet hat?“

Seine Finger fahren unbewusst über das zu schwere Eisen an seinem Handgelenk, wo Leder und Schnüre die Kälte vom Fleisch halten sollen. „Es war nur… ein Pochen.“ Er schluckt. „Und dann… als ob jemand den Arm festhält. Innen.“

„Das war kein Jemand“, sagt sie. „Das war dein eigener Schwur, der Zähne bekommen hat. Hier nimmt so etwas Form an.“ Sie zeichnet kleine Strahlen vom Kreis aus, wie tastende Finger. „Das Ding da drinnen“ – ein kaum merkliches Nicken in Richtung der unsichtbaren Mitte der Halle – „hat deinen Prahlersatz gefressen und ihn zu Futter gemacht. Jetzt trägt der Ring seinen Nachgeschmack.“

Bernulf presst die Lippen zusammen. „Also soll ich gar nichts sagen? Nur schweigen, bis wir draußen sind?“

„Reden musst du“, erwidert sie, mit einem müden Zug um den Mund. „Befehlen auch. Aber du wählst die Zunge wie ein Messer. Keine leeren Tröstungen. Kein ‚Gewiss‘, wenn du nicht gewiss bist. Kein ‚Immer‘, kein ‚Nie‘, kein ‚Solange ich lebe‘. Solche Worte sind hier Haken. Sie bleiben hängen.“

Er zieht die Knie dichter an die Brust, die Kinder am Rand ihres Feuers im Blick. „Und wenn einer von ihnen weint und fragt, ob wir morgen noch da sind?“

Sie lässt den Stock ruhen, atmet einmal tief, als kostete sie schon diese Antwort Blut. „Dann sagst du: ‚Ich will morgen noch da sein.‘ Nicht: ‚Ich bin es gewiss.‘ Du benennst deinen Willen, nicht das Schicksal.“ Ihre Fingerspitze kratzt ein schmales Tor in die Kreislinie, eine Öffnung. „Wollen bindet hier schwächer als versprechen. Und Zweifel, laut gesagt, geben dir Schlupflöcher.“

Ein Schatten von Trotz flackert in seinen Augen. „Das klingt nach Feigheit.“

„Das klingt nach Überleben.“ Ihre Stimme wird härter. „Deine Großmäuler da draußen schwören bei allem und jedem, weil die meisten Steine tot sind und die meisten Priester müde. Dieser hier ist wach. Und er ist verwandt mit dem, der in deinem Ring steckt.“

Die Worte treffen ihn sichtbar; er zuckt, als habe sie ihn geohrfeigt. „Verwandt?“

Sigerhild nickt langsam. „Die Runen, die ich im Gestein sah… dieselbe Art Faden wie in deinem Schmuck. Alter Eid. Alter Preis. Wenn du hier den Mund zu voll nimmst, wird dein eigener Fluch nachhelfen, dich zu binden.“

Zwischen ihnen zischelt das schwache Feuer, wirft blasse Zungen an den Stamm. Bernulf senkt den Arm, als läge das Eisen nun doppelt so schwer. „Also“, sagt er schließlich, stockend, „zählen hier sogar dumme Sprüche.“

„Ja.“ Sie wischt mit der flachen Hand über einen Teil des Kreises, verwischt ihn, nur um ihn noch sorgfältiger neu zu ziehen. „Bravado, wie ihr es nennt – groß reden für die Gasse – ist hier so scharf wie ein Messer, das du unbewusst ziehst. Und ein gezücktes Messer findet hier immer irgendetwas, das es schneidet.“

Seine Miene verfinstert sich, das Kinn trotzig vorgeschoben, doch die Stimme ist leiser. „Dann bring mir die Worte bei, die nicht beißen.“

Zum ersten Mal zuckt ein schmaler, dunkler Anflug von Schmunzeln an ihren Mundwinkeln. „Fang an mit ‚Vielleicht‘, ‚Ich hoffe‘, ‚Ich versuch’s‘. Und wenn es gar nicht anders geht, sag nichts und tu es einfach.“ Sie tippt wieder in den Kreis. „Dieser hier straft eher die Zunge als die Tat. Einmal ausnahmsweise ist Schweigen weniger schuldig.“

Statt eines glatten Randes kerbt Sigerhild nun Zacken um den Kreis, schief und ungleichmäßig, wie Bissspuren. „Das hier“, sagt sie, „ist die Gnade der Halle für Klingen.“ Sie zieht eine gezackte Linie näher an den Mittelpunkt, dann bricht sie abrupt ab. „Manchmal nimmt sie einem den Todesstoß aus der Hand, dreht ihn, macht aus einem Kehlschnitt nur eine Narbe.“ Eine zweite Zacke lässt sie ins Leere laufen, weit weg vom Kreis. „Aber wenn du dich im Schrecken nur auf Stahl verlässt, kann dieselbe Macht dich im Stich lassen. Dein Hieb verfehlt, deiner knickt ab… und der, der dich im Namen eines ‚ehrlichen Zweikampfs‘ fordert, trifft auf einmal besser als er sollte.“

Sie zeichnet zwei Striche nebeneinander, einer nackt, einer mit kleinen Ringen und Haken. „Darum: Messer und Knüppel nur mit Vorsatz. Und wenn es geht, in Formen, die der Ort kennt – Herausforderung, Bannschlag, Schutzgeste.“ Sie klappt zwei Finger gegeneinander, als zerbreche sie etwas Unsichtbares. „Ein wilder Stoß im Getümmel ist hier blinder als sonst. Ein Schlag, den du mit Worten einhegst, findet eher sein Ziel.“

Bernulf zieht das Kinn vor, lehnt sich vor und kratzt mit einem rußigen Fingernagel seine eigenen Zeichen in die Asche jenseits ihrer Runen – kleine, krumme Kronen für die Adeligen, stumpfe Klingen für Mietschergen, die krakeligen Gassenmale seiner Läufer. „Die da draußen finden den Weg auch“, murmelt er. „Wenn einer von uns ihn kennt, kennt ihn bald ein Herr oder ein Boss.“

Bei jeder Krone zeichnet er einen Strich näher zum Kreis. „Die schicken dann ihre Männer vor. Sagen, das hier gehört ihnen.“ Seine Stimme wird hart. „Keiner von denen kniet, bevor der Ort ihn zwingt.“ Er hebt den Blick zu Sigerhild. „Sie lachen über alte Götter, bis der Stein selbst ihnen die Zähne zählt.“

„Und nicht nur das Grobe“, fährt Sigerhild fort, kratzt kleine Kreise dorthin, wo der Hallendunkel heller scheint. „Wo es zu schön wird, zu warm – da zeigt dich der Ort Bilder statt Holz und Stein. Volle Tafeln, offene Türen, ein Heim, das nie war. Wer mit leerem Bauch schaut, hält Trug leicht für Gnade.“

Bernulf schnaubt, doch sein Blick huscht zu den mageren Gestalten am Rand des Feuers. „Und Stimmen“, setzt er hinzu, „die dir zuraunen: ein einziger Handel, ein Schwur – Gold, Schutz, ein sicheres Versteck dafür.“ Er zeichnet kleine, hakenförmige Zeichen neben ihre Kreise. „Das ist dann nicht irgendein Geist, das ist der Hof selbst, der feilscht.“

Er hebt warnend zwei Finger. „Wer so etwas hört, kommt erst zu mir. Oder zu ihr.“ Ein kurzes Nicken zu Sigerhild. „Kein ‚Ja‘, kein ‚Vielleicht‘, bevor wir es gehört haben. Auch wenn es klingt, als wäre endlich einmal einer auf unserer Seite.“

Am Rand des Aschekreises zieht Sigerhild die Linie weit hinaus in das Laub, lässt sie sich winden und unvermittelt abbrechen. „Der Wald ist der Dritte am Tisch“, sagt sie leise. „Große Rotten jagt er auseinander, schickt sie im Kreis, bis sie sich in die Kehlen fahren – uns aber reißt er ohne Gunst ebenso auseinander, wenn wir brechen.“

Bernulf folgt der Linie mit den Augen, kaut an der Innenseite seiner Wange. „Meine Leute rennen“, gibt er zu. „Bei Lärm, bei Gold, bei Angst.“ Er fügt mit rußigem Finger kleine Gabelungen hinzu, jede ein möglicher Irrweg. „Ein einziger Schrecken, und sie verschwinden in Pfaden, die hinter ihnen zuwachsen.“

Sigerhild nickt knapp. „Also halten wir sie eng und still“, sagt sie. „Kein Jagen, kein wildes Davonlaufen. Einer hebt die Stimme, zwei andere schweigen ihn runter.“ Bernulf brummt Zustimmung, wenn auch widerwillig, und stößt den Stock in die Erde, als würde er die Karte festnageln. „Zusammenbleiben ist hier unser einziger Schild“, murmelt er. „Gegen Männer. Und gegen diesen verfluchten Wald.“

Sigerhild fährt noch einmal langsam den Rand der Aschezeichnung entlang, als würde sie einen Graben ziehen, dann tippt sie mit der Kohlenspitze auf die ersten dunklen Flecke im Hallendunkel. „Hier“, sagt sie leise, „und hier. Das sind blinde Ecken.“ Sie malt kleine, schmale Augen daneben und streicht sie mit dem Daumen durch. „Der Ort zeigt dir an solchen Stellen, was er will, dass du siehst – nicht, was da ist. Kein Kind geht allein da hinein. Kein Rennen, kein Verstecken.“

Bernulf rückt näher, der Eisenring an seinem Handgelenk klirrt leise. „Also meiden“, murmelt er, „oder nur mit einem von uns beiden davor.“ Sigerhild nickt, tippt weiter, markiert mit kurzen, harten Strichen die Stellen, wo gebrochene Bannerstangen im Halbdunkel aufragen und die Wolfssäulen wie stumme Wächter stehen.

„Wenn ihr doch auseinandergerissen werdet“, sagt sie, „sind das eure Zähne im Wald.“ Sie zieht um jede solche Stelle einen kleinen Kreis. „Wer verloren geht, rennt nicht kreuz und quer, er sucht die Wölfe, die Stangen, die er kennt. Da bleibt er. Er schreit nicht. Er wartet.“

„Bis einer von uns ihn findet“, ergänzt Bernulf rasch, als merke er, dass Schweigen hier Gift wäre. Er zeichnet winzige Strichmännchen an die Kreise, ordnet sie in Grüppchen. „Keine Heldentaten alleine. Wer zwei Atemzüge denkt, lebt länger.“

Zuletzt wendet Sigerhild sich dem geborstenen Thronkreis zu, dem aufgerissenen Herz der Halle. Mit zögerlichem Strich fährt sie seinen Bogen nach, fügt Runenzeichen hinzu, die nur halb an die alten Formen erinnern. „Das hier“, sagt sie, und ihre Stimme senkt sich unwillkürlich, „ist das Letzte, wohin ihr geht, nicht das Erste.“

Sie setzt das Kohlestück in die Mitte des Kreises, lässt es wie eine kleine Säule stehen. „Wenn alles bricht – Männer, Wald, Hof – dann zieht ihr euch hierher zurück. Kein Laufen mehr, nur Schild an Schild, Rücken an Stein.“ Ihr Blick streift die Kinder am Feuer, bleibt kurz an jedem Gesicht hängen, als schwöre sie sich, es wiederzuerkennen. „Die Halle hasst offenes Schlachten. Wer hier tötet, tut es gegen ihren Strich.“

Bernulf schnaubt leise, aber ohne Spott. „Dann machen wir aus ihrem Ekel unsere Mauer“, sagt er. „Wenn einer uns stellen will, soll er es dort tun, wo jeder Hieb schwer wird und jede Lüge ihm Blut aus der Nase treibt.“

Sigerhild legt den Stock beiseite, wischt Ruß von ihren Fingern. „Blindstellen meiden. Säulen suchen. Thronkreis halten.“ Sie spricht es aus wie eine kleine Litanei, halb Befehl, halb Gebet. „Mehr Schild gibt uns dieser Ort nicht.“

Von dort aus „verankert“ sie die Schwächsten in ihrem Bild: die Fiebrigen, die Hinkenden, die mit dem leeren Blick. „Die schlafen hier“, sagt sie, und zieht mit der Kohlenspitze einen breiten Halbkreis dicht um den Sockel des Schwursteins, so nah, dass dessen kaltes Gewicht im Nacken sitzt. „Nah genug, dass sie zweimal nachdenken, bevor sie in die Finsternis rennen. Und nah genug, dass der Stein sie sieht, wenn sie lügen – sich selbst oder euch.“

Ihre Finger fahren über die eingeritzten Zeichen am Fuß des Monolithen, über verwitterte Götterbilder und halbverwachsene Runenbänder. „Diese Kerben sind keine Zier“, murmelt sie. „Richtig angerufen, drehen sie eine tödliche Klinge in einen warnenden Streich, machen aus einem Stich einen blauen Fleck. Oder sie nehmen einem Herzen den Mut zum Töten, gerade lang genug, dass jemand wegkommt.“

Sie weist Kindern zu, wer bei den Schwachen liegen muss: je ein wacher Kopf zwischen zwei Kranken, immer einer mit klarem Bein, keiner ganz allein. „Wer hier ruht, rennt nicht“, sagt sie leise. „Er hält Stand – oder wird gehalten.“

Bernulf hockt ihr gegenüber, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und schlägt seinerseits harte, praktische Kanten in das Bild. Mit einem Knöchelklopfen markiert er die Stelle, wo der Jägerpfad die äußere Säulenreihe küsst. „Hier stehen meine Augen“, sagt er knapp. „Nur die, die sich nicht von Flüstern locken lassen.“ Er nennt zwei ältere Mädchen beim Namen, legt sie in den Engpass zwischen den schiefen Eichen, und bestimmt dazu die Burschen, die auf ein einziges Rufen hin im Geröll verschwinden können wie Wasser im Sand.

„Jeder Läufer, dem ich traue, geht diese Linien dreimal“, befiehlt er schließlich, zieht die Finger von Stein zu Stein. „Im Hellen, im Halbdunkel, mit geschlossenen Augen. Bis der Weg in ihren Füßen sitzt, nicht im Kopf.“

Zauber, sagt sie ihnen, ist hier nichts Fremdes, sondern Atemarbeit: Beim ersten grauen Licht wird sie über Wasser und Asche nur leise, scharf gezählte Bitten an Wald- und Schwurgötter murmeln – Schleier gegen spähende Blicke, klare Gedanken in der Hitze der Wahl. In der Dämmerung tastet sie neue Fäden an – eine Spurverwirrung, ein stumpfer Zahn gegen das Raubtierhafte in den Winkeln der Halle –, jedes Wort mit Gegenwort versehen, jede Bitte so geknotet, dass sie sich wieder lösen lässt, wenn der Ort sich regt wie ein lauschendes Tier. Bernulf hört zu, merkt sich die Reihenfolge wie Wachpläne; er soll sehen, wenn etwas antwortet, das nicht gerufen war.

Zuletzt zieht Sigerhild eine harte Linie neben den Halbkreis des Steins, ein Strich, der mehr ist als Kohle im Laub. „Bis hierher reicht eure eigene Zunge“, sagt sie. „Darüber hinaus sprecht ihr durch uns.“ Kein Schwur, kein Handel, kein hitziges Versprechen gilt, wenn nicht sowohl sie als Priesterin wie Bernulf als Ringträger es gehört und still geduldet haben. In einfachen, ungeschönten Worten erklärt sie, was geschieht, wenn sie trotzig dagegen anreden: Nasenbluten nur als Anfang, Träume voll würgender Ranken, vielleicht ein Ruf in der Dunkelheit, der nicht mehr von Menschenkehlen kommt. „Wenn ihr euch binden müsst“, schließt sie, „dann lasst uns zwischen euch und diesem Stein stehen. Er frisst gern, aber nicht uns zuerst.“

Bernulf antwortet zuerst, noch ehe Sigerhild Luft holt. Seine Stimme ist kurz geschnitten, aber nicht hart genug, um zu beißen. „Heim“, wiederholt er, als koste er das Wort ab, ob Gift darin steckt. „Was du Heim nennst, will dich nur wiederhaben, wenn du zahlst.“

Er stützt die Unterarme auf die Knie, beugt sich zum Kind hinüber, ohne es wirklich zu berühren. „Es gibt kein Haus in Waldheim, das mir Boten schickt, weil es mich vermisst. Und keinem von euch wird wer nachlaufen, der nicht vorher rechnet: Was bringen mir diese Gören ein? Wem gehören sie, wem schulden sie was?“ Er zeichnet mit einem Stock grobe Linien zwischen den Steinen, wie Wegrillen in einer Karte. „Der Wald lässt nur kleine Rotten durch – Jäger, Schmuggler, Pilger, wenn sie leise treten. Alles, was größer ist als eine Handvoll, verläuft sich. Und die Männer, die in Rotten kommen, bringen Hunde und Ketten mit, nicht warme Decken.“

Er rollt den Eisenring am Handgelenk, der ihm zu schwer ist für sein Alter, als würde er prüfen, ob das Metall mitschweigt. „Wenn sie uns finden“, sagt er, „dann weil sie dies hier riechen.“ Er nickt in die dunkle Hallenweite, wo die Oathsteine im Halbschatten glänzen. „Oder mich.“

Ein kurzes, schiefes Lächeln, in dem nichts Kindliches bleibt. „Nicht euch.“ Er lässt das Gewicht der Worte sinken wie einen faulen Handel, den man ausschlägt. „Eure Namen stehen auf keinem Pergament, niemand hat für euch beim Stein geschworen. Wer nach mir sucht, sucht eine Ware: Blut mit Siegel, einen Ring, der Leute krümmt, wenn ich rede. Euch sieht er höchstens als Beipack – und Beipack wirft man ab, wenn der Weg zu eng wird.“

Er blickt in die Gesichter, eines nach dem anderen, als prüfe er, wie viel Wahrheit sie tragen können, ohne daran zu brechen. „Das hier“, fügt er leiser hinzu, „ist im Augenblick näher an Heim, als alles, was draußen auf euch wartet.“

Sigerhild lässt ihn reden, bis das Schweigen wieder schwer zwischen den Säulen hängt. Dann setzt sie an, sachlich wie bei einer Krankheitsbeschreibung. „Die neuen Tempel“, sagt sie, „schicken keine Eiligen hierher. Ihre Ritter tragen Segen, die im Rauch von Weihharz glänzen und bei Stadtmauern stark sind.“ Ihre Hand fährt knapp über die Rinde eines Eichenpfeilers, wo alte Runen wie Narben blass aufleuchten. „Aber diese Halle zieht ihnen den Glanz aus den Knochen. Je näher sie kommen, desto dumpfer werden ihre Gebete. Ihr Stahl wird müde, und ihre Schutzworte stolpern.“

Sie beschreibt, wie Segenszeichen der fremden Gottheiten an den Wipfeln hängenbleiben wie Spinnfäden, wie Bannkreuze rissig werden und keine Wärme mehr spenden. „Kein Inquisitor rennt sehenden Auges in ein Gericht, das nicht seinem Gott gehört“, fügt sie leise hinzu. „Sie werden zögern, umkehren, andere Wege suchen. Das schenkt uns Tage.“

Dann zählt sie die anderen auf, ohne ihre Stimme zu heben: Banden mit Eisenhalsringen statt Schwurringen, deren Kinderketten beim Laufen klirren; Herren mit ausgedünntem Blut, die vergessene Bastarde und Nebenlinien jagen, um Lücken in ihrem Stammbaum zu stopfen. „Solche Retter“, sagt sie, „fragen nicht, ob du mitgehen willst. Die nehmen, was sie als Eigentum wittern – Ring, Blut, Gehorsam –, und wer zu klein ist, um auf Listen zu stehen, kommt höchstens als Schatten mit.“

Als die Gesichter der Kleinsten sich zu zerknitterten Tüchern ziehen, bietet Sigerhild keinen Trost, sondern eine schmalere, wahrere Tür. „Es gibt noch welche, die mit altem Recht handeln“, sagt sie. „Ausgediente Schwurpriester, die mehr Angst vor gebrochenem Wort haben als vor Stahl. Weiber, die man Hexen nennt, weil sie die Wälder besser kennen als ihre Männer. Ein oder zwei Schmugglerpaten, die eher mit Steinen verhandeln als mit Schöffen.“

Bernulf knirscht hörbar mit den Zähnen, ehe er ein paar Namen fallen lässt, als würden sie ihm Blut kosten. Leute, die ihn einst ernst genug genommen hatten, um einen Handel statt eines Hiebs zu wagen; die wussten, was sein Ring bedeutet – und dass man mit ihm Gewinn machen kann, wenn man ihn nicht zerbricht.

Gemeinsam machen sie aus der dünnen Liste eine Übung in nackter Wahrscheinlichkeit. Bernulf ritzt mit dem Stock den geheimen Pfad in den Staub: Engführungen, umgehbare Sümpfe, Bäume, die man nur bei Mondlicht erkennt. Er gibt zu, dass kaum zwei, drei seiner Läufer den Weg ohne seine Hand finden würden. Sigerhild, das Kinn an die Faust gelehnt, weist darauf hin, dass selbst wohlgesonnene Schritte hier gefesselt würden: Jeder, der eintritt, steht unter denselben Hallengesetzen – jede Zusage schwer, jede Lüge schneidend. Wer käme, käme nie als reiner Retter, sondern als weiterer Schuldner im Buch des Steins.

Bis der Wind die bläuliche Flamme zum Zittern bringt, hat das Wort „Rettung“ seine Märchenhaut verloren. Was bleibt, ist ein Plan mit scharfen Rändern: Keine Boten, keine Bittrufe in den Wald, kein Wimpel am Baumsaum, dem man nicht misstraut. Stattdessen reden sie vom Gehen, nicht vom Geholtwerden. Sigerhild deutet Schattenbögen, eingestürzte Nebenhallen, Wurzelgänge, in denen man ein Verschwinden inszenieren könnte. Bernulf nennt Nächte, in denen der Wald weniger beißt – Mondphasen, Windrichtungen, das Schweigen der Vögel. Sie entwerfen Übungen in leisen Paaren: Einer geht, einer wartet, keiner verspricht laut, wohin. Hoffnung schrumpft zur kalkulierten Variable in Sigerhilds innerer Rechnung, ein Posten zwischen Wasser, Wachs, Wunden und Wegen.

Sigerhild lässt sie nacheinander vortreten, als wären es Angeklagte vor einem stummen Gericht. „Alles auf den Boden“, sagt sie, und obwohl der Satz einfach ist, klirrt etwas Dahinterliegendes mit – als hätte der Stein im Rücken zustimmend gezuckt. Kleine Hände lösen Lederriemen, wenden Beutel, schütteln Bündel: harte Brotkrusten, die mehr Staub als Nahrung geben; dünne, fettige Streifen Rauchfleisch; runzlige Zwiebeln, ein paar verschorfte Rüben, getrocknete Äpfelschnitze, ein Stück Käserinde, das schon graugrün schimmert.

Ihre rußverschatteten Finger sortieren, ohne zu zögern. Was faul ist, fliegt rücklings ins Dunkel, den Würmern überlassen. Was noch trägt, wandert in saubere Häufchen, so genau getrennt, als läse sie Runen: heute, morgen, Übermorgen-wenn-keiner-blutet. Sie zählt halblaut, jede Zahl ein Hieb, jeder Hieb ein Schnitt durch alte Gewohnheiten. „Dieser Haufen ist für die, die heute Wache stehen. Dieser für die Verletzten. Dieser für die, die morgen laufen müssen, wenn wir laufen müssen.“ Keine Bitte, kein Vorschlag, nur Setzungen, als spräche sie ein kleines Gesetz.

Protest kommt, natürlich. Ein Mädchen presst die Lippen zusammen, der kleine Bursche mit dem geschwollenen Auge ballt die Faust, einer der Älteren stößt etwas von „Mein Beutel, mein Brot“ hervor. Sigerhild hebt nicht einmal den Kopf. „Nicht mehr deins“, sagt sie ruhig. „Ihr habt den Hof mit ihm betreten. Hier drin hört alles mit.“ Sie lässt den Blick kurz zu den schwarzen Säulen aus lebendem Holz wandern, zu den blassen Adern im Stein am Rand des Feuers. „Wenn du jetzt schwörst, dass du teilst, und es später nicht tust, frisst es dich von innen. Wenn du schwörst, dass du behältst, frisst es die anderen.“

Bernulf tritt einen halben Schritt näher, das Eisen an seinem Handgelenk dumpf schimmernd im Feuerschein. Er sagt nichts, aber alle sehen, wie die Adern an seinem Hals beim Schlucken springen. Der Ring summt leise, wie ein Insekt an der Schläfe, und die Kinder erinnern sich an Nasenbluten, an Kopfweh, an das Gefühl, als hätte der eigene Schatten ihnen schon einmal den Hals zugedrückt, wenn sie ein Wort zu weit gegangen waren.

„Also machen wir’s ohne Schwüre“, fährt Sigerhild fort, während sie die letzten Krumen mit dem Handrücken zu einem gemeinsamen Haufen streicht. „Keiner verspricht, satt zu werden. Keiner verspricht, nichts zu stehlen. Wir halten nur fest, was ist.“ Sie nickt in die Runde. „Wer heute voll isst: die zwei, die gestern die Spuren verwischt haben. Die mit den tiefsten Schnitten. Und du.“ Ihr Finger findet einen blassen Knirps, der immer noch zögert, seinen letzten Apfelschnitz herzugeben. „Du gibst her und isst voll. Das gleicht.“

Sie legt die Rationen zu, weist sie zu, in einem Rhythmus, der bald mehr wie ein Gebet klingt als wie Teilung: „Ganz. Halb. Halb. Ganz. Wache. Schlafen. Wache.“ Die ersten Blicke suchen Bernulf, ob er einschreitet, ob er ihren Spruch bricht. Er tut es nicht. Stattdessen hebt er das Kinn. „Wer meint, er könne heimlich mehr nehmen“, sagt er langsam, „soll wissen: Ich frage nicht, ich lass fragen.“ Ein knappes Nicken hin zum Dunkel, zu Stein und Hallenwänden. „Und was hier fragt, vergisst nicht.“

Die Gemurmel verenden. Eine der Älteren streicht mit dem Daumen über den trockenen Rand ihrer zugeteilten Kruste, als könnte sie so mehr daraus machen. Keiner wagt mehr, „ungerecht“ zu sagen. Die Reihenfolge, die Hälften, die ganzen Brocken, die Namen für erste und letzte Wache – alles steht, als sei es in die Silberadern des Oath-Steins selbst geschlagen worden. Die Kinder spüren, ohne dass jemand es ihnen erklärt, dass dies kein Handel ist, den man morgen „noch einmal neu bespricht“. Es ist eine Ordnung, die sie in dieser Nacht eher bindet als jedes gemurmelte Versprechen: Zählen statt schwören, teilen statt lügen – und über allem das Wissen, dass sogar das Wegsehen hier als stille Zusage gelten könnte.

Beim Wasser wird ihre Stimme rau, als schabte sie über Kies. „Wir holen nur bei erstem und letztem Licht“, sagt sie. „Immer zu zweit. Einer trägt, einer sieht zu. Keiner trinkt allein. Keiner bleibt zurück. Keiner läuft einem Flüstern oder einem Licht nach, das hinter den Grenzsteinen tanzt.“ Sie deutet in die Finsternis, wo zwischen Wurzelbuckeln blasse Brocken alten Gesteins liegen, von Moos überwuchert und doch spürbar – Marker, mehr gefühlt als gesehen.

Ein Murmeln hebt an, bricht ab. „Und wer mit wem?“ zischt einer der Älteren. Da tritt Bernulf ins Halbdunkel zwischen Feuer und Stein, so dass die blaue Glut das Eisen an seinem Handgelenk trifft. „Ich“, sagt er, und sein Kiefer arbeitet. „Ich setz die Paare. Nach dem, was ihr könnt. Nicht nach Laune.“

Er hebt den Arm, als würde er eine kleine Gerichtssitzung eröffnen. Der Ring summt, dumpf und nervös, und die Kinder spüren es in den Zähnen. „Wer ausschert, wer allein geht, wer trinkt, bevor sein Zweiter den Becher sieht“ – seine Stimme sinkt, gewinnt Härte – „der redet erst mit mir. Dann mit dem Stein.“ Für einen Augenblick scheint die Luft schwer zu werden, als lausche etwas Unsichtbares mit. „Und was der Stein fragt“, schließt Bernulf leise, „das beantwortet ihr mit Blut oder mit Wahrheit. Besser, ihr bleibt in der Reihe.“

Die Verwundeten kommen als Nächste, eine Reihe schmaler Körper entlang einer umgestürzten Wurzel, die einst wie ein Prozessionssteg der Fey gewirkt haben muss. Sigerhild kniet, das Messer zum Schaber geworden, schneidet Stoff vom Fleisch, wäscht mit kaltem Wasser, das nach Stein und altem Laub schmeckt. Ihre Hände sind ruhig, die Bewegungen knapp, priesterlich nüchtern. Zwischen gezogenen Splittern und verklebten Wunden murmelt sie halbe Gebete an Wald- und Weggötter – Namen, die eher wie Erinnerungen klingen als wie Anrufung.

Sie zählt im selben Atemzug: „Du kannst laufen, aber nicht schlagen. Du kannst tragen. Du hältst Wache im Sitzen. Du bleibst im inneren Kreis.“ Mit jedem Knoten im Leinwandverband bindet sie eine Rolle fest, als ließe sich Pflicht genauso sicher fixieren wie eine klaffende Wunde.

Als Mägen vermessen und Körper versorgt sind, wenden sie sich dem Hallenleib selbst zu. Bernulf schickt seine schnellsten Läufer aus, die geborstenen Säulengänge und den Thronkreis im Trab zu umrunden, unscheinbare Zeichen zu setzen, die nur seine Bande lesen kann: verknotete Schnüre, schiefe Kerben im Moos, eine einzeln verdrehte Feder auf blankem Stein. Sigerhild folgt langsamer, die Fingerspitzen rußgrau, und fährt dort, wo der Glanz noch dünn in Rinde und Stein hängt, blasse Runen nach – nicht, um ihn zu rufen, sondern um zu warnen: Hier lügt die Luft, hier rutscht die Zeit, hier wird Stahl schwer und Wille weich. Zwischen ihren Zeichen wächst ein grober Plan von gangbaren Pfaden, toten Winkeln und Winkeln-für-Später, ein Netz aus stillen Verboten, das sich wie ein zweiter Schatten über die alte Ordnung der Halle legt.

Zuletzt zieht Sigerhild mit rußgeschwärzter Fingerspitze einen schmalen Strich aus Asche und feuchter Erde um ihr dürftiges Lager. Einer nach dem andern tritt darüber, nennt mit belegter Stimme, was er bis zum nächsten Morgen tun und lassen will: Wache stehen, den Bissen teilen, den Schlafenden wecken, sobald fremde Worte in seinen Ohren wispern. Keine hohen Schwüre – nur kleine, scharfe Zusagen, die ihnen im Hals stocken, während die Halle sie wiegt. Bernulf steht dabei, zählt mit, und als das letzte Kind zurückweicht, spricht er seinen eigenen, leisen Spruch: Keiner handelt mit dem Eidstein ohne ihn und Sigerhild zugleich. Der Ring an seinem Arm vibriert zustimmend, der Staub am Otharsstein regt sich kaum merklich – und aus diesem geteilten Verbot wird das erste Gesetz des Schutzortes, den sie aus Trümmern schälen.


Lessons in the Twisted Dusk

Auf Sigerhilds Drängen hin richten sie feste Stunden ein nach dem trügerischen Licht der Halle – „Erstes Dämmern“, „Wurzelnacht“ und „Astgrau“ –, jede benannt nach dem, was der Wald ihnen zeigt, nicht nach dem Lauf der unsichtbaren Sonne. Sie lässt Bernulf und die Kinder die Bezeichnungen laut wiederholen, bis sie wie kleine Litaneien über die rissigen Steine getragen werden.

„Erstes Dämmern ist für den Leib,“ sagt sie, die Hand auf einen bemoosten Pfeiler gelegt, als wolle sie den Hall selbst als Zeugen nehmen. „Essen, Waschen, Wunden binden. Kein Handel, keine Pläne, bevor eure Hände nicht ruhig sind.“ Sie ordnet, wer wann aus dem schimmligen Vorrat Brotkrusten schneidet, wer Wasser aus dem schwärzlichen Spiegelbecken schöpft, wer die Feuerstelle prüft, wo die Flammen dünn und bläulich zittern, bis jemand ein Stück Metall oder einen Tropfen Blut opfert.

„Wurzelnacht gehört den Göttern und dem Stein,“ fährt sie fort, als sie mit einem Stab aus abgerissener Eiche Kreise in den Staub zieht. In dieser Stunde führt sie leise Riten an der Eidstele durch: kurze, alte Formeln, Besänftigungen statt Bitten. Die Kinder lernen, ihre Worte zu wiegen wie gestohlene Münzen – „wenn“, „sofern“, „nur dann“ –, und sie müssen ihre Anfragen dreimal umformulieren, bis keine unbeabsichtigte Bindung mehr darin steckt. Bernulf rollt anfangs ungeduldig mit den Augen, doch er merkt, wie der Druck in seinem Oath-Ring nachlässt, wenn er genauer spricht.

„Astgrau ist für die Klingen ohne Stahl,“ bestimmt Sigerhild schließlich. In dieser Stunde üben sie Wege und Ausweichschritte zwischen den verwachsenen Säulen, Stabgriffe statt Messerstiche, Deeskalation als stilles Handwerk. Sie lässt Bernulf seine Leute aufstellen wie in den Gassen der Städte, nur dass hier die Pfeile im Flug abgelenkt werden und ein Wurfstein anders prallt als draußen. Die festen Stunden, in den Hall geflüstert, legen sich wie ein brüchiger, aber spürbarer Takt über die verzerrte Zeit, ein Menschenmaß gegen die Launen der alten Kräfte.

Bernulf teilt die Halle in Zonen ein, wie einst die Hinterhöfe der Städte. „Hier sind die weichen Stellen,“ sagt er und tippt mit der Fußspitze gegen einen Spalt zwischen Stein und Wurzel, wo der Wald noch hineinriechen kann. An diesen Übergängen richtet er drehende Wachen ein: ein älterer Läufer, der die Wege kennt, immer mit einem der Kleinsten, der noch nicht gelernt hat, laut zu prahlen.

„Rufen bringt euch hier nichts als blutende Nasen,“ knurrt er, den Blick kurz zur Eidstele werfend. „Also hört zu.“ Er zwingt sie, stundenlang stumme Zeichen zu üben: eine Hand an der Rinde, zweimal klopfen, einmal kratzen; ein geworfener Kiesel über Stein, dessen Echo von den gewölbten Ästen verzerrt wird; das Schütteln eines bestimmten Laubzweigs, der ein trockenes Flüstern sendet, das man nur an bestimmten Säulen hört.

Sie lernen, wie der Hall selbst ruft – das Rascheln entfernter Zweige, das Tropfen von Wasser in die dunklen Becken – und weben ihre Signale dazwischen, bis Warnung und Waldstimme kaum zu trennen sind.

Sigerhild nimmt eine eingestürzte Seitenapsis in Besitz, wo ein halb verfallener Altar unter Wurzelwerk liegt. Mit der Hand wischt sie Moos und altes Wachs beiseite, richtet ihre wenigen Messer, Nadeln, Knochenhaken und ausgesuchten Kräuter in streng gezogenen Linien an – nicht nur der Ordnung wegen, sondern als stilles Zeichen an die Kräfte im Stein.

„Das hier ist weder Tempel noch Spelunke,“ sagt sie, „aber es reicht für Riten und für Wunden.“ Jeder bekommt eine Aufgabe: Wasser abkochen, Verbände aus zerrissenen Hemdsärmeln drehen, Schienen aus Zweigen binden. Beim Reinigen von Schnitten murmeln sie einfache Schutzformeln wie Arbeitslieder, lernen, kleine Runen in Lehmplättchen zu ritzen, die an Lagerplätzen deponiert werden – keine großen Schwüre, nur leise Abwehrzeichen gegen Krankheit, Panik und fremde Blicke.

Mit Kohlestücken, zerbrochenen Ziegeln und eingeritzter Borke richtet Bernulf mit zwei der Älteren, die lesen können, auf einem umgestürzten Pfeiler ein rohes Tafelwerk ein. Pfeile und Zeichen kriechen über den Stein: Wachgänge, Schleifen durch den wandelnden Wald, Schlupflöcher, dazu „sauere Stellen“, wo der Hall flimmert, Stimmen doppelt gehen oder Stunden unvermerkt verschlingen.

Jeden Abend vor der „Wurzel­dunkelheit“ halten sie Rat im Schatten des Kreises, nie ganz im Bann der Eidstele, aber nahe genug, dass jedes unbedachte „Ich schwör’s“ ein scharfes Räuspern oder einen warnenden Stoß von Sigerhild einbringt. Missgriffe, Beinahe-Fallen, flackernde Glamourflecken werden durchgegangen, in Gesten, Kerben und knappe Worte gefasst, bis aus Beobachtungen Regeln, aus Regeln stillschweigende Gesetze ihres ausgerufenen Zufluchtsortes werden.

Die „Nacht“ stürzt nicht herein, sie bricht. Ohne Vorzeichen legt sich ein schiefer Schwarzglanz über die Baumkronen, und dann schlägt Wasser herab, als würden oben die alten Becher der Götter umgestoßen. Innerhalb eines Herzschlags tropft es durch eine schadhafte Stelle im lebendigen Dach, dann platscht es, dann strömt es – ein kalter Vorhang, der ihre notdürftigen Schlafnischen in sumpfige Mulden verwandelt.

Kinder kreischen, Decken und armselige Bündel werden hastig weggezerrt. Bernulf flucht, versucht, mit einem alten Schildbrett und einem zerschlissenen Mantel die schlimmste Stelle abzudecken; der Stoff weicht durch, das Brett rutscht. Wasser läuft die Wände herab wie silbrige Schlangen, sammelt sich in Pfützen, die in der verzerrten Zeit der Halle tiefer zu werden scheinen, als der Boden eigentlich hergibt.

Sigerhild kniet im prasselnden Dunkel, das Haar im Nacken klatschnass, die Finger auf dem kalten Stein. Irgendetwas in der Art hat es schon gegeben, früher, lange Häuser unter tropfenden Reetdächern, Männer, die nicht vom Regen aufgeweckt werden sollten, bevor der Feind kam. Ihr Mund formt stumme Silben, während sie in ihrem Gedächtnis wühlt wie in einer alten Truhe.

„Die Äste,“ sagt sie plötzlich, heiser vor Eile. „Gebt mir biegsame Äste.“

Zwei der Kleinen bringen ihr junge Zweige der Eichen, noch grün und lebendig. Sie spreizt sie fächerförmig unter der Rissstelle, zwingt sie mit Stricken und alten Gurten in einen Bogen, der an die Dachbögen der alten Langhäuser erinnert. Mit blutigen Fingern ritzt sie in Rinde und Stein ein Netz aus Linien, knotet an jeder Kreuzung ein geflüstertes Wort fest.

„Kein Bann, kein Schwur,“ murmelt sie, mehr zu sich als zu den Kindern. „Nur Bitte an Holz und Stein. Leit es, halt es nicht.“

Die ersten Tropfen, die auf das improvisierte Geflecht prallen, zögern, als würden sie ihre Meinung ändern. Dann kriechen sie an den eingeritzten Linien entlang, sammeln sich zu Rinnsalen, die von der Schlafnische weg und tiefer in die Halle geführt werden. Eine alte, halb verschüttete Rinne im Boden – zuvor nur ein Schatten zwischen Wurzeln – füllt sich, gurgelt und stürzt in ein verborgenes Loch.

Bernulf folgt dem Wasserlauf mit einer Fackel, deren Flamme im blauen Halbdunkel der Halle klein und eigensinnig bleibt. Hinter einem herabgesunkenen Steinpodest entdeckt er das Maul einer uralten Zisterne, mit Kalk verkrustet und von Wurzelwerk umschlungen. Er lässt ein Steinchen fallen; sie hören kein Aufschlagen, nur ein dumpfes, feuchtes Schlucken.

„Unser Notbrunnen,“ sagt er, und sein Tonfall ist der eines Mannes, der ein neues Versteck in einer feindlichen Stadt markiert. Mit einem Kohlestift zeichnet er ein unscheinbares Zeichen an den nächststehenden Pfeiler, fügt sie auf dem Kartensockel hinzu: ein schlichter Kreis mit zwei schiefen Wellen darunter.

In den folgenden verzogenen Tagen lenkt der Spruch jedes Mal, wenn die Halle ihre krummen Stürme schickt, das Wasser dorthin. Die Schlafnischen bleiben trocken, und im dumpfen Innern der Zisterne sammelt sich ein Vorrat, kühl und schwarz. Die Kinder lernen, den Regen nicht mehr nur als Plage zu sehen, sondern als gefangene Ressource, in Rillen und Runen gezwungen, wie alles andere in diesem Ort der gebrochenen Gesetze.

Die Sache mit den Schleudern und Armbrüsten klärt sich an einem dieser geknickten Nachmittage, wenn das Licht wie schales Bier zwischen die Säulen sickert. Zwei der Älteren treiben einen gefesselten Boten eines Rivalen durch einen Neben­gang, die Knoten zu locker, die Nerven zu straff; einer der Jungen wechselt die Hand am Spannbügel, ein Stein schnappt vorzeitig aus der Ledertasche. Das Geschoss zuckt durch die Luft wie von unsichtbaren Fingern gekniffen, streift die Wand, schlägt hart, aber harmlos gegen den Rücken des Gefangenen und zerbröselt an einer Wurzel.

Noch ein Versuch, noch ein verpatzter Schuss, diesmal im rechten Winkel zur ausgelegten Richtung. Bernulf kneift die Augen zusammen, schaut zu Sigerhild. Sie legt die Hand an die feuchte Wand, fühlt die träge Abwehr des Halles gegen blanke Gewalt, wie ein müder Tieratem im Stein.

„Euer Gang,“ sagt Bernulf schließlich, „wird zur Redehalle. Keine Hinrichtungen hier. Nur Worte.“

Er lässt die Kinder ihre Schleudern sinken, während Sigerhild mit stumpfem Messer und rußiger Kohle Linien zieht: schlanke Schutzrunen, die nicht bannen, sondern ablenken. An den Wänden, im Boden, über Türstürzen spannt sie ein Gitter aus Zeichen, jedes begleitet von einem gehauchten Zusatz: „Weise ab, zeig den Zorn, töt nicht.“

Die nächsten Geschosse – demonstrativ abgeschickt, um den Gang „einzuweihen“ – schlagen in Funken aus schiefem Licht um, prallen nah am Ziel in den Stein, dass Splitter wie geflüsterte Drohungen die Stirnen der Gefangenen streifen. Niemand wird getroffen, jeder versteht die Botschaft.

Binnen weniger Tage heißt der schmale, gewundene Durchgang bei allen nur noch der „Redegang“. Bernulf verfügt, dass dort alle Verhöre, Drohungen und Abmachungen stattfinden. Wer diesen Pfad betritt, weiß: Hier fliegen Worte schärfer als Pfeile, und wenn doch einer die Hand ausrutscht, wird der Hall selbst aus einem Mordversuch eine Mahnung machen.

Der Hunger treibt sie eines dieser schiefen „Morgen“ bis an den Rand der Panik. Das kümmerliche Feuer, das sie aus Zweigen und morschem Holz schlagen, würgt und stirbt zu einem kalten Glimmen ab; der Rauch kriecht an den Säulen hoch und löst sich, als hätte die Halle selbst ihn verachtet. Kinder sitzen mit blauen Lippen um den Steinhaufen, klammern sich an halb­rohe Wurzeln und zähe Dörrstreifen.

Sigerhild wartet, bis die anderen wegsehen, dann zieht sie das Messer. Kein großer Schnitt, nur genug, dass dunkles Blut über ihre Finger perlt. „Kein Schwur,“ flüstert sie in die glimmende Asche, „nur Lohn.“

Sie lässt die Tropfen auf den toten Funken zischen. Die Flamme schlägt nicht hoch – sie senkt sich. Ein matter, bläulicher Schein kriecht durch die Kohlen, verdichtet sich zu einem ruhigen, tiefen Glutbett, das weder knistert noch funkelt, sondern einfach ist: still, beharrlich, beständig wie alter Groll.

Die Kälte weicht aus dem Kreis um den Stein. Atemwolken werden dünner, Finger werden wieder beweglich. Einer der Jungen wirft zögernd einen verbogenen Nagel hinterher; er glimmt auf, wird im Blau geschluckt. Bald folgt mehr Schrott: Drahtenden, krumme Schnallen, eine zerbrochene Messerklinge. Metall sinkt hinein wie Opfer in ein stilles Wasser und kommt nicht wieder hervor, doch die Glut wächst, schiebt einen gleichmäßigen Wärmering in die Dunkelheit.

Bernulf sieht das, schnauft leise. „Müll rein, Wärme raus,“ sagt er und setzt sich so, dass die Glut in seinen Augen spiegelt wie ein neuer Stadtplan. Die Kinder merken sich rasch, welcher Kram tauglich ist; sie durchkämmen tagsüber die Randruinen nach rostigen Resten und werfen abends ihre Funde wie Huldigungen in den blauen Schlund.

Bald ist die improvisierte Feuerstelle kein armseliger Steinhaufen mehr, sondern ihr Mittelpunkt. Um die stille, metallfressende Glut rücken sie zusammen, teilen Beute, Gerüchte und Angst. Der Hall nimmt ihnen den Schrott, gibt ihnen Hitze und einen Ort, an dem Stimmen leiser werden und der Hunger für ein paar verzogene Stunden nachlässt.

Als eine Rotte erwachsener Schergen den Rand des Halls findet und mit Gebrüll durch die äußeren Bögen bricht, lockt Bernulf sie wie störrische Packesel durch jene Gänge, in denen blanker Stahl schwer wird, Scharten treibt und im Lauf zu rosten beginnt. Sigerhild tritt ihnen nicht mit Klinge, sondern mit erhobenem, leeren Messergriff entgegen, benennt laut die Götter des Ortes und fordert den Anführer zu einem gebundenen Zweikampf vor Zeugen. Kein Hinterhalt, kein Regen aus Geschossen – nur ein rituell abgesteckter Kreis, Worte und ein einziger Schlag, dessen Gewicht der Hall selbst misst. Als der Mann stolpert, die Klinge ihm wie Blei im Arm hängt und er auf die Knie gezwungen wird, presst Sigerhild ihm die Hand auf den Oath Stone am Rand des Kampfplatzes. Er spricht, keuchend, den von ihr diktierten Satz: dass er weder Weg noch Lage des Halls nennen wird, weder im Zorn noch gegen Sold. Blut rinnt ihm aus der Nase, die Runen unter seiner Hand glimmen kurz wie heißes Erz – und dann lässt der unsichtbare Druck nach. Oathsore verlässt er den Wald, mit unverrichteter Rache, und Bernulf markiert auf seinem inneren Plan einen weiteren Eingang, der künftig nur Feinde frisst und nur einen zurückspuckt.

Fast ist es vorbei, als eines der Kleineren, aufgebracht und klapperdürr, vor Sigerhild ausschreit: „Ich schwör, ich geh nie. Sigerhild schneidet ihm mit einem scharfen Gegenwort dazwischen, einem alten Widerrufssatz, der den halben Schwur in Rauch zerreißt. Später setzt sie Bernulf hin, lässt ihn für seine Läufer „sichere Zungen“ aufstellen: feste Redewendungen und Fingerzeichen, mit denen sie Pläne, Drohungen, Treue und Fluchtwege benennen können, ohne dass ein unbedachter Laut sich im Gestein verfängt. Kein Funke, kein Blut, nur kluge Regeln gegen einen gierigen Ort – beide rechnen es sich insgeheim wie einen gewonnenen Hinterhofkampf an.

Sie merken es erst, als die Kinder fast beleidigt zurückkehren: kaum Schrammen, aber mit aufgerissenen Stimmen durcheinander brüllend, als könnten sie den verpassten Kampf nachholen. Die „Razzia“ der erwachsenen Schergen gegen eines ihrer Randverstecke endet, ehe sie überhaupt begonnen hat. Wo eigentlich ein versteckter Vorratsverschlag zwischen Wurzelwerk und Fels stehen sollte, gähnen nur Böschungen, schiefe Gräben, ein paar fremde Fußspuren, die sich im Laub verlieren.

„Die sind einfach… weggebogen,“ stößt einer der Läufer hervor. „Eben waren sie noch hinter uns, dann war da nur noch Hang, und ich stand ganz allein. Hab nur noch Schreien gehört. Überall.“

Bernulf hört sich die widersprüchlichen Berichte an, knetet dabei unbewusst das Leder um seinem Oath-Ring. Seine eigenen Leute sind in kleinen Trupps nach Hause gestolpert, verängstigt, aber unverletzt; die Verfolger aber hat der Wald verschluckt, einzelne Spuren führen in sumpfige Senken, andere zu steilen Rutschhängen hinab. Kein zusammenhängender Weg, kein Sturmangriff – nur Stückwerk, das nach Panik und kaltem Wasser schmeckt.

Sigerhild lässt sie reden, bis das Gewirr an Worten abebbt. Dann nickt sie nur knapp. Es ist, als habe der Hall selbst eine schützende Gasse gezogen, nicht für sie, sondern gegen den groben Tritt der Fremden.

Später, im matten Schein der metallfressenden Glut, zeichnet sie mit trockenem Kohlenrest Linien in den Staub zwischen ihnen. „Das hier,“ sagt sie leise, „ist kein Wunder, das euch ewig zufällt. Es ist eine Laune. Eine… Neigung des Ortes.“ Sie setzt kleine Steine für Bernulfs Läufer, größere für die erwachsenen Jäger, verschiebt sie, bis das Muster der Berichte stimmt: wie sich Wege verkanten, Trupps teilen, Stimmen im Unterholz verziehen.

„Wenn der Hall Truppen hasst, die wie ein Knäuel kommen,“ murmelt Bernulf, „dann treiben wir sie eben im Knäuel hierher.“

Sigerhilds Mundwinkel zuckt, kaum wahrnehmbar. „Nicht ‚wir schwören, sie hierher zu locken‘,“ korrigiert sie scharf. „Du sagst: ‚Wir versuchen. Wir locken, soweit wir können.‘ Kein Versprechen. Nur Absicht.“

Sie lässt ihn die Worte nachsprechen, dann die Steine noch einmal setzen: Engstellen, lockende Vorratszeichen, ein beschädigtes Karrenrad hier, ein scheinbar verräterischer Kinderschritt dort. „Ihr rennt nicht mehr vor ihnen weg,“ fasst sie schließlich zusammen, „ihr führt sie. Schritt für Schritt. Bis der Hall ihnen die Beine auseinanderzieht.“

Die Kinder lauschen mit geweiteten Augen; selbst die Wildesten sind still, als sie begreifen, dass man Feinde nicht nur mit Messern, sondern mit einem launischen Ort selbst schlagen kann. Bernulf stützt die Ellbogen auf die Knie, studiert das improvisierte Kartenbild, als wäre es ein neuer Straßengrundriss. „Dann bauen wir eben falsche Gassen im Wald,“ sagt er. „Und lassen Eichenkrone die Prügelarbeit tun.“

Das erste Mal, als ein halbtrunkener Scherge im Zorn ein Messer wirft und die Klinge im Flug wie mit unsichtbarer Hand knickt, schräg in eine Säulenwurzel fährt statt in den Brustkorb eines Kindes, bleibt die Zeit für einen Herzschlag stehen. Das Geräusch ist kein heller Einschlag, sondern ein dumpfes, beleidigtes Knirschen; das Eisen baumelt schief im lebenden Holz, schon fleckig von beginnendem Rost. Der Junge, der eben noch Ziel war, sitzt keuchend im Dreck, tastet verwundert über sein unversehrtes Hemd.

Später, als der Tumult abgesackt ist und nur noch der bläuliche Schein der blutarmen Glut den Gang ausfüllt, bindet einer der Läufer ein Stück ausgefransten blauen Strick an den Astansatz der Säule. Ein Zeichen: Hier hat der Hall die Hand dazwischengehalten. In derselben Nacht setzt Bernulf seine Leute dort im Halbrund auf den Boden, teilt gestohlenes Honigbrot aus, als wären es Ehrenschilde. Er spricht von klug gewählten Wegen, nicht von Glück.

Sigerhild kniet etwas abseits, wo Holz und Stein ineinander wachsen, und ritzt mit der Messerspitze eine schützende Rune ins graue Fleisch des Pfeilers, leise murmelnd, als wolle sie den Ort selbst um Beistand bitten, nicht die Kinder.

Es ist ein ausgezehrter Schmuggler, der es zuerst ausspricht. Er steht triefend im Dämmerlicht des Vorhofs, Mantel zerfetzt, die Augen noch voll von einem missglückten Fluchtzauber. „Kein Zauberer,“ keucht er, „kann sich hier ’rein toren. Hab’s gesehen. Zwei Mal haben sie’s probiert – der eine kam im Sumpf raus, der andre… gar nicht.“

Sigerhild lässt sich seinen Bericht zweimal, dreimal geben, horcht auf jedes Wort, das nach Prahlerei riecht. Dann stellt sie sich an die unsichtbare Schwelle, wo die Luft kälter wird, und murmelt eine alte Bannbrecher-Strophe, wie man sie sonst gegen Tempelwehren singt. Die Silben prallen dumpf ab, rutschen wie Regen von einer unsichtbaren Haut.

Sie blinzelt, blickt zu Bernulf. Er hat es ebenfalls gespürt. Zwischen ihnen huscht ein kurzes Nicken hin und her – kein Jubel, sondern die nüchterne Feststellung eines neuen Faktums im Lageplan. Die Halle selbst zieht die Schotten dicht gegen fremde Tore, macht jeden herbeigezauberten Überfall zu einem beschwerlichen Fußmarsch.

„Also kommen sie zu Fuß,“ murmelt Bernulf später, als sie über einer rußigen Skizze hocken. „Gut. Füße kann man stolpern lassen.“ Sigerhild setzt einen Kringel an den Rand der Zeichnung – die neue, unsichtbare Mauer – und ergänzt leise eine Dankesformel an die namenlosen alten Wächter im Holz.

Es geschieht an einem grauen Tag, als einer von Bernulfs kleinsten Läufern, zwischen zerbrochenen Thronstufen von älteren Schlägern in die Enge getrieben, mit heiserer Stimme einen halb erinnerten Bedingungssatz herausstößt: „Wenn ich euch Durchgang lasse, dann lasst ihr uns in Frieden.“ Die Luft zuckt, als schlüge unsichtbarer Donner ein; die Großen stolpern zurück, Hände an den Köpfen, während ihnen dunkles Blut aus Nase und Augen rinnt – der Schmerz einer Lüge, die sie beinahe gesprochen hätten. Später setzt Bernulf den Jungen demonstrativ neben sich, nennt es „kluge Rechtsrede“ und macht daraus eine Geschichte, die in allen Gängen erzählt wird, während Sigerhild die Formel Zeile um Zeile abschleift, bis sie für alle Kinder als sichere, bindende Rede taugt.

Als ein Hinterhalt in der Säulenhalle daran scheitert, dass plötzlich alle Klingen schwer werden wie Blei und jeder tödlich gemeinte Hieb zu einem seitlich abgleitenden Streifen verkommt, lassen sie die zitternden Angreifer nicht erschlagen, sondern an den Rand des Halles schleifen. Bernulf diktiert die Warnung, Wort für Wort von Sigerhild entschärft: kein Schwur, nur ein drohender „Rat“. Sie schicken die Männer fort wie lebende Boten ihrer neuen Bastion, zählen den Vorfall als Beweis, dass sich der Widerstand des Hofes gegen Blutvergießen wie ein Harnisch tragen lässt – und rechnen doch, schweigend, die Gesichter durch, die mit der nächsten Vergeltung kommen werden.

Er kommt im Regen, mehr stolpernd als laufend, und bricht fast genau dort zusammen, wo die vertrauten Wildwechsel in das schwerere Schweigen des Hofes übergehen. Ein dünner Bursche, kaum älter als zehn, Kleider zerfetzt, Fußlappen blutig. Einer der Waldposten zerrt ihn über die Wurzelkante; Bernulf ist schneller da als Sigerhild, kniet schon neben ihm, die Finger am Kinn des Jungen.

„Hadel,“ stößt er aus, und der Name verrät, dass dies keiner von den ganz Entbehrlichen ist.

Der Junge japst nach Luft, die Augen flackernd wie bei einem Ersticken. Wörter stoßen bruchstückhaft aus ihm hervor, halb Schluchzen, halb Bericht: „…Stadtseite… die Rotfäden mit den Flößern… haben sich eingekauft bei den Schwarzen… Männer mit richtigen Schwertern, Kettenhemden… ein Priester mit. Weiß, mit dem Radzeichen. Redet von Reinigung… von einem unreinen Hof…“

Sigerhilds Magen zieht sich beim Wort „Radzeichen“ zusammen. Sie reißt den nassen Kittel des Jungen auf, tastet nach gebrochenen Rippen, nach innerem Bluten. Ihr Griff ist hart, sachlich, so wie man einen Opferbock prüft. Eine klaffende Platzwunde am Hinterkopf, Fieberhitze, die nicht vom Laufen kommt.

„Still jetzt,“ knurrt sie, mehr Beschwörung als Befehl. Sie lässt kaltes Hallenlicht in seine Pupillen fallen, schnauft leise, als die eine mehr träge reagiert. Kein Wunder, dass seine Sätze reißen.

„Wo?“ fragt Bernulf, die Stimme schärfer, als einem Kind guttut. „Wie weit?“

„Am alten Zollstein… zwei Tage hinter uns, wenn sie… Abkürzungen finden…“ Hadel hustet, ein Faden Blut am Mundwinkel. „Sie… suchen ’nen Weg, ihn… zu umgehen. Den Wald zu spalten.“

Sigerhilds Hand verhärtet sich an seinem Brustbein. Ein Tempel-Inquisitor, der mit Söldnern durch Bandenland zieht, ist kein Zufallsgänger. „Zurückweichen geht nicht mehr,“ denkt sie, während sie das kleine Messer zückt, die Klinge mit ihrem eigenen Speichel benetzt, leise Worte hineinwispert, die man in anständigen Tempeln nicht mehr laut sagt.

Sie ritzt ihm drei kurze Linien an den Haaransatz, alte Fieberbrecher-Zeichen, presst dann ihre Hand darauf. „Du wirst nicht sterben,“ sagt sie, bewusst meidend: „Ich verspreche es.“ Stattdessen: „Ich halte dich fest, so lang ich kann.“

Der Hallenrand kühlt beim Wort „halte“ merklich ab, als lausche etwas. Bernulf bemerkt es, sein Blick flackert kurz zu den knorrigen Bogen der Bäume, dann wieder zu Hadel. In seinem Gesicht liegt ein nüchternes Rechnen, das einem Zwölfjährigen nicht stehen sollte.

„Wie viele?“ fragt er leiser. „Zähl, Hadel.“

„Drei Hände Männer mit Eisen… dazu die Rotfäden, Hälfte davon meine früheren… und der Priester mit zwei aus der Stadtgarde.“ Die Worte werden schleppend. „Er hat… gefragt nach dir, Herr. Nach dem Jungen mit dem Ring.“

Sigerhild und Bernulf erstarren gleichzeitig. Der Eisenreif an seinem Handgelenk fühlt sich in diesem Moment schwerer an, als gehörte er ebenfalls zu den Lasten des Hofes.

„Sie wissen es,“ denkt Sigerhild. „Nicht alles. Aber genug.“ Die mühsam gewebte Tarnung aus flüsternden Kinderfüßen und verirrten Pfaden hat ein Leck. Nicht in einem Monat, nicht in einem Jahr, sondern jetzt, grob und früh.

Sie zwingt Hadel eine bittere Kräutermischung zwischen die Zähne, stützt seinen Kopf, bis der Schluckreflex einsetzt. „Du hast getan, was du sollst,“ murmelt sie, ganz knapp an einem Dankesgelübde vorbei. „Mehr verlangt niemand.“

Bernulf sitzt noch immer auf den Fersen, die Fäuste auf den Oberschenkeln geballt. Als der Junge in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf sinkt, hebt er den Kopf, sucht Sigerhilds Blick.

„Also kommen sie,“ sagt er tonlos. „Mit Schwertleuten und Gottesmann.“

Sie nickt. „Und sie glauben, dass ihr Gott sie bis hierher trägt.“ Ein zynisches Lächeln zuckt ihr über den Mundwinkel. „Der Hof wird ihnen das Gehen schwer machen. Aber er schützt uns nicht vor Fragen.“

Für einen Moment sehen sie beide zum dunklen Bogen der Bäume, wo der Regen in feinen Fäden hängt. Hinter dem feuchten Geruch von Erde und Moos steht nun ein anderer Geschmack in der Luft: das metallische Vorahnen von bevorstehenden Schwüren, von Verhören, von Blut, das nicht mehr nur in alten Steinen steckt.

„Wir müssen schneller lernen, als sie marschieren,“ sagt Sigerhild leise.

Bernulf steht auf, plötzlich wieder der kleine Herr über Schattenpfade. „Dann fangen wir an,“ antwortet er. „Heute. Nicht, wenn sie schon vor der Tür stehen.“

Die Probe ihrer neuen Bastion beginnt harmlos genug. Bernulf lässt eine Handvoll Ältere vor den Oathstein treten, die Stimmen festigen, die Formeln üben, die Sigerhild ihnen beigebracht hat: Bedingungen, Auswege, kleine, geschmeidige Klauseln. Dann drängt sich Hasko vor, sein breitester Leutnant, der zu oft gelacht hat, seit die Klingen fremder Männer hier stumpf wurden. Er schmeißt den Kopf in den Nacken, reibt prahlerisch mit der Faust über den silberdurchzogenen Stein.

„Ich bleib bei dir bis zum Tod, Herr,“ ruft er, ohne Wenn, ohne Aber. „Nie lauf ich, nie verrat ich dich, bei allem, was hier lauscht!“

Die Luft im Thronkreis drückt schlagartig nieder wie vor einem Sommergewitter. Hasko blinzelt, versucht ein Grinsen – dann schießen ihm die Adern an den Schläfen hervor. Blut läuft ihm aus Nase und Mund, seine Knie knacken auf die Stufen. Fieberglanz steht in seinen Augen; er keucht, als würge ihm unsichtbare Hand die Kehle zu.

Die Jüngeren weichen zurück, flüstern „Fluch“ und „Strafe“. Bernulf steht wie versteinert da, die Finger unbewusst am Eisenring. Sigerhild stößt ihn grob beiseite, drückt Haskos blutige Hand vom Stein, wobei sie selbst scharf die Luft einzieht – eine Nadel aus Schmerz jagt ihr durchs Handgelenk.

„Zurück! Keiner fasst ihn an!“ faucht sie. „Kein Wort mehr über Schwüre hier, bis ich’s sage.“

Sie ritzt hastig alte Umkehrzeichen in den Staub um die Stufe, benutzt kein Blut, nur Speichel und ausgeatmete Worte, halb Gebet, halb Rechtskniff: Schlupflöcher, die sie einst für zahlende Kunden suchte. „Bürde geteilt… Last gemindert… Bindung bleibt, doch bei Krankheit und Wahnsinn ruht der Zwang…“ murmelt sie, jede Silbe vorsichtig von einem „sofern“ und „solange“ abgefedert.

Der Druck im Kreis lässt nach, Haskos Atem stolpert wieder in einen Rhythmus, der Leben verheißt. Er bleibt schwitzend liegen, das Gesicht ein Schlachtfeld aus geplatzten Äderchen. Die Kinder, die eben noch kichernd zugeschaut haben, schauen nun auf den Stein wie auf einen hungrigen Gott.

Später, als Hasko schlafend in einer Nische liegt, versammelt Bernulf sie im Halbdunkel der Halle. „Ihr habt’s gesehen,“ sagt er leise. „Der Hof schlägt zu, wenn ihr die Zunge schlampt – euch, nicht nur die Feinde.“ Er lässt die Worte sinken wie kaltes Wasser.

Sigerhild ergänzt, Ton trocken wie Pergament: „Wer hier groß schwätzt, zahlt mit Blut oder Hirn. Ihr redet nur noch in Wenns und Solanges, verstanden? Keine ewigen Versprechen, keine ‚nie‘, keine ‚immer‘. Dieses Dach ist kein Geschenk. Es ist ein Vertrag, den ihr jeden Tag neu verhandelt.“

Niemand widerspricht. Selbst Bernulf senkt kurz den Blick vor dem Stein, als hätte er zum ersten Mal begriffen, dass der Hof nicht auf seiner Seite steht, sondern nur auf der Seite des Gesagten.

Der Versuch, Vorräte anzulegen, zerschellt leise, aber gründlich. Was sie in Nächten ohne Mond in Baumhöhlen, unter umgestürzten Stämmen, in alten Fuchsbauten verborgen haben, finden die Läufer Wochen später als verräucherte Haufen oder blank ausgeräumte Nester wieder. An manchen Stellen stecken noch verkohlte Pfähle im Boden, mit grob eingeritzten Kreuzen und radförmigen Zeichen, darüber mit rußiger Kohle: „Hexenbrut fernbleiben“. Einmal baumelt ein toter Rabe an den Zweigen, der Schnabel mit Harz verklebt – ein dörflicher Fluchversuch.

Bernulf hockt über seinen Wachstafeln, kratzt ganze Wege aus dem Wachs, presst die Lippen so fest aufeinander, bis sie weiß werden. „Die reden von uns,“ sagt er knapp. „Witchbratzen im Geisthof.“ Routen, die einmal sicher waren, schrumpfen zu dünnen Fäden; jeder Bauer mit Axt und Weihwasser wird plötzlich zu einem Risiko, das er mit einzeichnen muss.

Der avisierte Handel mit einem niedereren Edelmann – Bernulfs große Hoffnung auf Schutzbriefe und Namen – zerbricht lautlos. Der Mann erscheint mit zwei schweigsamen Knechten, bleibt aber wie angewurzelt vor der unsichtbaren Schwelle stehen, die Pferde rolläugig hinter ihm. „Hier stimmt etwas nicht,“ murmelt er, den Blick auf die verdunkelten Eichenbögen geheftet, als lausche er fernem Geschrei. Sigerhild tritt an den Rand des Hofes, das Gesicht halb im Dämmer, und versucht, über Abstand hinweg Bedingungen zu legen: begrenzte Information gegen diskrete Versorgung, kein Eid, nur lose Zusage. Doch je länger sie spricht, desto mehr krümmt der Mann die Finger um sein Rosenkranzrad, als bekäme er Kopfschmerzen vom bloßen Hallenblick. Schließlich weicht er zurück, murmelnd von „verfluchter Heidewehr“ und inquisitorischen Fragen, und reitet, ohne sich noch einmal umzusehen. Zurück bleibt das Bewusstsein, dass der Hof ihnen Schutz gibt – und jeden möglichen Bundesgenossen zugleich fortscheucht.

In der dritten Dämmerung reißt der Hof ihnen die nächste Illusion aus den Händen. Kaia, kaum zehn Winter alt, schleicht mit den anderen zum Thronkreis, als die Flüsterstimmen dort plötzlich anschwellen, Wortfetzen ihrer eigenen Namen, Versprechen, Drohungen, übereinander geschichtet zu einem schmerzenden Chor. Sie stößt einen gellenden Laut aus und rennt, blind vor Angst, durch eine Seitenarkade, die gestern noch eine blinde Nische war. Bernulf flucht, Sigerhild hetzt hinterher, doch schon nach wenigen Schritten stimmt keine Säule, kein Runenpfeiler mehr mit ihren Wachstabellen oder Erinnerungen. Pfade knicken im rechten Winkel ab, ohne das Laub zu stören, Schatten werden zu Wänden, ein umgestürzter Stamm liegt gleichzeitig vor und hinter ihnen. Zeit verläuft in Rucken: mal ist der Himmel noch bleigrau, mal schon fast schwarz, während ihr Atem wie aus fremden Lungen kommt. Zweimal stolpern sie fast in denselben schwarzen Spiegelteich, der immer an einer anderen Stelle wartet. Sie finden Kaia schließlich zitternd in einer Laubmulde, kaum hundert Schritte vom Thronkreis entfernt, obwohl ihre eigenen Beine Stunden zu tragen scheinen. Keiner ist verletzt, doch ihre Stimmen bleiben rau, als hätten sie zu lange geschrien. In der darauffolgenden Stille begreifen sie, dass der Hof sie verwunden kann, ohne eine Hand gegen sie zu erheben – mit verschobenen Wegen, gestreckten Minuten, ausgehöhlter Richtung. Bernulf schärft seinen Läufern ein, nie wieder allein zu gehen, und Sigerhild beginnt, bei jedem Aufbruch leise Umkehrverse zu murmeln, als müsse sie den Wald daran erinnern, wo vorne und hinten ist.

Sigerhild beginnt, den Hof nicht mehr als bloße Kulisse zu begreifen, sondern wie einen launischen Gönner, dem man sich mit Gespür nähern muss. Sie redet nicht darüber, doch die Kinder sehen, wie sie ihre Gewohnheiten ändert. Wo sie früher mit kaltem Wasser wusch und sparsam mit dem Messer war, erlaubt sie der Klinge jetzt, flacher über die Haut zu fahren, um einen Tropfen mehr zu lösen. Kein großes Opfer, nur diese eine Perle Blut, mit einem Finger eingerieben in spröde Runen, in rissige Altarplatten, in den moosigen Saum der Oath-Steine.

„Nicht schenken,“ murmelt sie einmal, als Kaia sie neugierig beobachtet, „anbieten.“ Das Wort hängt eine Weile zwischen ihnen, als prüfe der Hof es auf Gewicht.

Sie probiert alte Formeln, die in den Tempeln längst verlernt sind: knappe, rauhe Strophen, in denen die Waldgötter noch Wölfe statt Symbole tragen, und die Eidmächte als „Freunde der Axt“ angerufen werden. Manches spricht sie nur halblaut, manches nur im Ausatmen, um nicht mehr zu binden, als sie versteht. Dabei lauscht sie auf die Antwort, die nie ganz deutlich kommt, aber immer da ist: der Ton, in dem ein Echo zurückkehrt oder verschluckt wird; die Art, wie Rauch sich unter den Eichenkronen kringelt; ob das Laub still wird oder lauter flüstert.

Wenn ein Vers missfällt, zieht die Kälte im Nacken hoch, und das flackernde, bläuliche Feuer in den Opferschalen schnappt zusammen, als habe jemand die Luft entzogen. Wenn etwas anklang findet, zieht ein kaum merklicher Wärmestrom vom Stein in ihre Finger, und das gefilterte Licht unter den Ästen wird für einen Atemzug klarer, fast golden. An solchen Tagen wagt sie, die Liturgie anzupassen: Sie streicht Namen von Gottheiten, die hier schwach geworden sind, und betont stattdessen die unpersönlichen Kräfte – „Hüter der Grenze“, „Zeuge jedes Wortes“, „Ohr im Blätterdunkel“.

Die Kinder erleben nur die äußere Ordnung: dass bestimmte Wege erst betreten werden, nachdem Sigerhild leise an einem unscheinbaren Wurzelaltar gekratzt hat; dass sie vor Verhandlungen ein paar Tropfen ihres Blutes in eine rissige Steinschale tropfen lässt und den Finger an den Rand legt, bis das leichte Brennen nachlässt. Bernulf spottet anfangs: „Du zahlst Miete an das Gemäuer.“ Doch er merkt sich genau, nach welchen kleinen Riten die Hallenwege weniger verrückt spielen, an welchen Tagen die Schritte sicherer wirken.

Nach und nach entsteht ein stiller Rhythmus, ein Umgangston mit dem Hof: kein blinder Gehorsam, eher das Ringen zweier misstrauischer Vertragspartner. Sigerhild spricht ihre Gebete wie ausgehandelte Klauseln, mit einschränkenden Formulierungen und Vorbehalten, und der Hof antwortet mit fein dosierten Gunstbeweisen – weniger verirrte Pfade, milderes Drücken in den Schläfen, wenn man den Oath-Stein passiert. Aus einem verfluchten Ort wird kein Freund, aber ein Gegenüber, das man ernst nimmt und das, mit der richtigen Mischung aus Respekt und Vorsicht, zu tragen hilft.

Bernulf beginnt, den Hof nicht nur in Wegen und Winkeln zu lesen, sondern in Worten. Er merkt, dass ein hingeworfenes „Ich sorg schon dafür“ im Schatten eines bestimmten Eichenbogens sich Tage später anfühlt wie ein Eid, der ihm die Kehle zuschnürt, während eine schärfer formulierte Drohung am Rand der schwarzen Becken schal verpufft und die Läufer plötzlich unerklärlich nachlässig werden. Er probiert aus, wo Zusagen schwer werden wie Eisen und wo sie leicht bleiben wie Atem.

„Wir sprechen hier nur von ‚Versuch‘ und ‚Vielleicht‘,“ zischt er einmal, als ein älterer Junge unter einem knorrigen Ast „Ich schwör“ sagen will, und zerrt ihn ein paar Schritte weiter, bis die Blätter leiser flüstern. Ratsbesprechungen verlegt er mit Absicht unter eine breite, rissige Eiche, deren Wurzeln in einen alten Opferstein greifen. Dort scheinen Drohungen mehr Biss zu haben, Versprechen aber stumpfer zu sein; ein guter Ort, um andere zu binden, ohne sich selbst zu tief zu verfangen. Mit Kreidestrichen, eingeritzten Zeichen und heimlichen Merkversen entsteht so Bernulfs eigener Hofplan – nicht aus Linien, sondern aus Sprachfallen und sicheren Formulierungsinseln.

Die Kinder weben sich eigene, wortlose Liturgien in den Alltag. Bevor ein Späher loszieht, tippt er dreimal mit den Knöcheln an denselben gesplitterten Runenstein, bis die Haut dort rau ist wie Kreide; wer es vergisst, wird unruhig, als hätte er seinen Mantel zurückgelassen. Beim Teilen des dünnen Breis legen sie die Fingerkuppen flüchtig an den Sockel des Oath-Steins und murmeln bruchstückhafte Anrufungen, halbe Dankesformeln, halbe Schutzbitten – nicht aus Frömmigkeit, sondern weil Mahlzeiten ohne dieses Murmeln merklich kälter schmecken. Gewisse dunkle Durchgänge meiden sie zur Dämmerung wie die Gasse eines verfeindeten Paten; andere Bögen gelten als „Glücksbögen“, unter denen Abmachungen leichter von den Lippen gehen. Mit der Zeit fühlen sich die Launen des Hofes an wie die ungeschriebenen Regeln eines gefährlichen, aber eigenen Viertels.

Gemeinsam tasten Sigerhild und Bernulf die Abwehr des Hofes gegen offene Gewalt und seine gekrümmte Zeit ab. Sie beobachten, wann Pfeile ihre Bahn verlieren, wann ein geworfener Stein wie in Honig fällt, und legen Überfälle, Botengänge, geheime Versammlungen in jene Atemzüge, in denen der Glamour dichter wird und Echos länger haften. Aus Launen werden berechnete Sperrzonen, Schneisen, Deckungen; die Kinder lernen, Pausen, Wachwechsel und Fluchtwege nach Hallenstunden statt Sonnengang zu richten, bis sich ihr kleines Reich wie ein Schattenplan an Eichenkrone schmiegt.

Sie lehnen sich so sehr auf die Eigenheiten Eichenkrones, dass ihr Handeln sich anfühlt wie das Fortsetzen eines fremden Satzes. Wenn die Steine einen Lügner bluten lassen, reden sie von „der Entscheidung des Hofes“, nicht von Strafe. Nächte, in denen nur blasses Feuer brennt und keine Pfade sich teilen, gelten bald als misstrauischer Blick des Ortes selbst, gegen den Auflehnung zwecklos scheint.

Immer öfter ertappt sich Sigerhild dabei, dass ihr erster Blick nicht Menschen, sondern Stein und Säulen gilt. Ein Streit um Rationen ist für sie kein moralisches Dilemma mehr, sondern die Frage, wessen Anspruch sich sauberer in die harte Grammatik der Runen fassen ließe. „Sag das noch einmal“, fährt sie einen Jungen an, der schwört, „immer“ Wache zu stehen. „Nicht ‚immer‘. Sag: solange du Kraft in den Knien hast und bis ein anderer dich ablöst.“ Ihre Zunge schmeckt Asche, wenn sie das „immer“ aus ihm herauslöst, doch der Druck im Ohr, dieses dumpfe Mahnen des Hofes, lässt nach. So misst sie die Kinder nicht an Reue oder Tugend, sondern daran, ob sie die Schlaufen gültiger Rede erkennen.

Bernulf, der einst stolz war, drei Versionen derselben Lüge binnen eines Gesprächs zu drehen, beißt sich nun auf die Lippen, wenn einer seiner Unterführer schwammig redet. „Wenn du sagst: ‚Ich kümmer mich drum‘, dann musst du sagen, worum genau“, knurrt er, den Armreifen schwer auf dem mageren Handgelenk. „Sonst nimmt der Stein sich das Weiteste, verstehst du? Der hört zu.“ In versteckten Winkeln der Halle lässt er sie Sätze wiederholen, bis jedes „vielleicht“ einen Haken, jedes „morgen“ eine Grenze hat. Aus Straßentricks werden Grammatikübungen des Überlebens.

Bald sind ihre Pläne mehr Kommentar zum Hof als eigene Erfindung. „Der Stein lässt uns zwei Tage Ruhe, wenn wir heute nichts schwören“, rechnet Bernulf und ordnet Botengänge nach den ungeschriebenen Zyklen der vibrierenden Adern im Fels. Sigerhild ertappt sich, wie sie innerlich fragt: „Was verlangt der Hof?“, bevor sie sich selbst fragt, was die Götter wollen. Zwischen Runenblinken und Aderflimmern schrumpft das Ich zur Randbemerkung eines größeren Vertrags, den sie längst mit unterschreiben, ohne zu wissen, wann.

Um die Kinder am Leben zu halten, erfindet Sigerhild aus dem Stegreif Schwurübungen: Scheinhändel am Rand des Steinkreises, bei denen falsch gesetzte Versprechen nur ein Brennen in den Adern, ein Stechen hinter den Augen, ein Nasenbluten kosten – nichts, was bleibende Schäden hinterlässt, aber genug, um Respekt zu lehren. Sie lässt sie fordern und einräumen, Bedingungen staffeln, Rückwege offenhalten; jede Runde endet mit trockenem Kommentar, wo ein „immer“ zu weit griff, wo ein „solange“ sie gerettet hat.

Die Bande beginnt, diese Übungen wie Aufnahmerituale zu behandeln. Die Älteren prahlen damit, wer dem Stein am nächsten stehen kann, ehe der erste rote Tropfen fällt; sie geben sich Spitznamen nach misslungenen Klauseln und knapp vermiedenen Fesseln. Ein Junge hält sich rühmlich zugute, dass er einen Handel so verschachtelte, dass der Stein zwar zuckte, aber stumm blieb. Was als Vorsichtsmaß einer Straßenpriesterin begann, verkehrt sich zu einer eigenen Ehre: Wer an der Grenze zum Bindenden balancieren und mit List bedingte Schwüre knüpfen kann, gilt mehr als der, der nur tapfer schlägt oder stiehlt. Eichenkrones Grammatik wird zu ihrer Mutprobe.

Bernulf merkt, wie der Hof leere Drohungen nicht nur verlacht, sondern mit stechendem Nasenbluten ahndet, wenn einer sich zu weit vorwagt. Er erinnert sich an Nächte in Waldheim, in denen er Kinder mit Worten knickte, die nie mehr waren als Rauch. Hier aber hängt jedes „Ich schwöre“ schwer in der Luft. Er streicht nach und nach jene Grausamkeiten, die nur auf Angst und Unklarheit gründeten. Drohungen, die er nicht binnen zweier Tage durchsetzen könnte, verbietet er sich; statt prahlerischer Versprechen setzt er enge, kalte Zusagen, die auf den Stein passen. Bald liegt in seinem Befehl weniger Gier als ein scharf gerahmter Ernst. Wenn er Belohnung oder Verderben zusagt, hören die anderen unwillkürlich mit auf den Hall, ob der Stein nickt.

Je näher sie dem Puls lebendiger Schwüre kommt, desto schiefer erscheint ihr eigenes Amt. Die ehrwürdigen Liturgien der Tempel wirken wie bemalte Kulissen gegen die trockene Aufmerksamkeit des Hofes; die bezahlten Winkelgeschäfte ihrer Vergangenheit wie gotteslästerlich fahriges Gestammel. In Nächten bei flackernd blauer Glut ertappt sie sich bei einem neuen Pronomen: „wir“, wenn sie vom Hof und sich spricht, als fädelte sich ihr Ich unmerklich in das uralte, wachsame Gesetz der Steine ein. Dabei weiß sie nicht mehr genau, wo Seelsorge endet und Beihilfe zu einem größeren, unbegreiflichen Vertrag beginnt.

Mit den Tagen, die ineinander verrinnen, nimmt ihre zerfranste Schar eine neue, fast liturgische Zucht an: keine leeren Schwüre, kein achtloses „immer“ oder „nie“, Händel werden in Bedingungen gegossen statt in Klingen. Anfangs erzwingen Sigerhild und Bernulf diese Gewohnheiten aus nackter Not, dann, weil alles andere sich unter Eichenkrones Blick falsch anfühlt. Als schließlich fremde Stiefelspuren und aufgerissene Farnhorste von Jägern künden, sind sie längst nicht mehr nur Flüchtige in einer Ruine, sondern vorläufige Hüter ihres Gesetzes – halb schon zu jener Priesterin und jenem kleinen Herrn geformt, die der Hall mit stummem Nachdruck von ihnen fordert.


Those Who Breach the Misdirected Paths

Von Westen her bricht der Lärm herein wie ein grober Keil in die gedämpfte Stille. Keine geordnete Reihe, sondern ein zerfasertes Band aus Fluchen, Gelächter und gepresstem Wimmern schiebt sich durch die lebende Säulenhalle: Schläger in gekochtem Leder, mit geraubten Kettenhauben, an denen noch fremde Wappenfetzen baumeln; Beile ohne Scheiden, Keulen mit eingetrocknetem Schwarzrot in den Rissen.

Zwischen ihnen – vor ihnen – werden die Kinder gestoßen. Spindeldürre Gestalten in zu großen Tuniken, mit Stricken statt Gürteln, barfuß oder in auseinanderfallenden Schuhen, die bei jedem Schritt im fauligen Laub schmatzen. Ihre Gesichter sind moosbleich, Augen tief in blauen Höhlen, manche mit zitternden Händen um kleine Beutel gekrallt, als könnten ein paar Münzen oder Brotreste sie gegen das, was kommt, schützen. Jeder Versuch, zur Seite auszuweichen, wird mit einem Hieb der Faust oder der Messerrücken beantwortet.

Die Männer lachen laut, unpassend hell unter den gedämpften Wölbungen der Eichenkronen. Einer spuckt auf eine verwitterte Runensäule, ein anderer schlägt mit dem Knauf seines Schwertes gegen einen wolfsgeschnitzten Pfeiler, als wolle er die alten Bilder einschüchtern. Ihre Derbheiten prallen aber seltsam stumpf von der Luft ab; die Worte hängen, schwer wie Rauch, und vergehen, ohne Echo zu finden. Ein paar von ihnen senken unwillkürlich die Stimme, sobald sie zwischen die inneren Bögen treten, und fluchen dann noch lauter, um die eigene Beklemmung zu übertönen.

Sigerhild erkennt Gesichter. Nicht Namen – die wechseln zu oft unter solchen Leuten –, aber Haltungen, Narben, Gangarten. Männer, die sie früher aus dem Schatten der Beichtnische heraus mit wohlgesetzten Segenssprüchen bekräftigt hat, wenn sie den Preis zahlten. Männer, die nun – dank oder trotz ihrer alten Kunst – gewachsen sind zu kleinen Herren im Dreck. Ihr Magen zieht sich zusammen, als sie sieht, wie eine schmale Gestalt in der vordersten Kindergasse strauchelt. Der Tritt, der folgt, ist routiniert, beinahe gleichgültig. Der Junge fängt sich, halb fallend, und richtet sich auf mit einer Bewegung, die ihr schmerzlich bekannt vorkommt.

Bernulfs Art, dachte sie. Oder einer seiner.

Der breitschultrige Hauptmann, der direkt hinter der ersten Linie der Kinder geht, ist unübersehbar. Der Narbenzug über seiner Oberlippe spaltet den Mund, gibt jedem Grinsen ein metallisches Flackern, als wäre eine Münze in Fleisch geschlagen worden. Um den Hals trägt er einen zu eng gegürteten Eisenreif, eindeutig von besserer Herkunft als der Rest seiner Ausrüstung – darunter blitzt kurz der Faden eines zerrissenen Familienzeichens auf, das grob abgeschabt wurde.

Sein Blick bleibt abrupt an dem Silberadernblock in der Mitte der Halle hängen. Das Oath-Steinmassiv liegt wie ein Herz aus erstarrtem Blitz im Dämmer, die eingekerbten Runen dunkel und wachsam. Die Kinder drängen instinktiv seitlich weg, doch Messerflachseiten und Knuffe treiben sie in einem flachen Halbkreis näher heran.

„Da isser,“ sagt der Kapitän, und sein Ton wird, für einen Schlag, beinahe ehrfürchtig. „Der Stein, von dem die Herren so viel raunen.“ Er spuckt wieder, diesmal zur Seite, als müsse er das fast-religiöse Zucken in seiner Stimme ersticken. Dann grinst er, breit, die Narbe wie eine geöffnete Geldtasche. „Ein Ding, das schwört, wie man’s ihm sagt. Macht aus Angst Ketten.“

Die Männer um ihn lachen zustimmend, roh, aber nicht ganz frei von Nervosität. Einer der Jüngeren tastet mit der freien Hand nach einem Holzkreis, der ihm als Talismann um den Hals hängt, und lässt ihn dann hastig wieder fallen, als sein Hauptmann den Blick wendet.

„Schaut euch das an,“ ruft der Narbige, hebt sein Messer, ohne es ganz zu ziehen – die Klinge scheint im Gürtel schwerer zu hängen, als wolle der Hall sie nicht frei geben. „Hier drin können wir’s schriftlich mit den Göttern machen, heißt es. Kein Weglaufen, kein Wortbrechen mehr, hä?“ Er schiebt die Schneide drohend, aber flach, gegen den Rücken eines der Kinder, bis es keuchend vorwärts stolpert und beinahe die Stufen des Steins berührt. „Stell dir vor, Kleiner. Wenn unser junger Herr Bernulf hier die Zunge anständig gebraucht, dann müsst ihr nie wieder überlegen, wem ihr gehorcht. Der Stein erinnert sich für euch.“

Sigerhild spürt, wie die Luft um den Oath-Stein sich verdichtet, als wäre Wasser über heißen Stein gegossen worden. Die Runen am Fuß des Blocks scheinen, ganz leicht, ihr Muster zu verschieben, als lauschten sie, unwillig geweckt von dieser rohen Stimme, die doch die richtige Saite schlägt: Furcht, Zwang, Versprechen. In ihrem Inneren rührt sich etwas Altes, Priesterliches, das die Hand hebeln will zu Abwehrzeichen; zugleich knurrt die Erinnerung an dunkle Gassen und bezahlte Schwüre, wie ein Hund, der alte Herren wittert.

Unter den Kindern dreht ein blasses Gesicht sich kurz zur Seite, und sie sieht braune Augen, zu alt für die schmalen Schultern, mit einem kalkulierenden Funkeln, das sie nur zu gut kennt. Einer von Bernulfs Läufern – oder ein Kind, das hätte sein können. Das genügt. Die Linien ziehen sich scharf: Diese Männer wollen nicht nur plündern. Sie sind gekommen, um die Angst zu vererben. Und der Stein beginnt schon zuzuhören.

Von Westen her also dieses lose, lärmende Band, das eher ins Hallen stolpert, als dass es einzieht. Kein Waffenzug, keine Zunftgarde – sondern jene Sorte Kerle, die an den Rändern jeder Stadt zu finden sind, wenn die Nacht lang und das Geld kurz wird: Hauptleute in gekochtem Leder, überzogen mit zusammengeklaubten Eisenstücken, Kettenhauben, an denen noch zerfetzte Wappenfetzen anderer Herren hängen. Sie schieben die halbverhungerten Kinder vor sich her, als seien sie nichts weiter als lebende Schilde: Fäuste in die Rücken, Messerrücken in die Rippen, ein Tritt in die Kniekehle, sobald eines stockt.

Die Gesichter der Kleinen sind moosbleich, die Augen zu groß in blauen Höhlen, Nasen verrotzt, Wangen mit alten Gelbgrün-Schattierungen und frischen Tränenspuren. Einer klammert sich an einen leeren Brotsack, ein anderes an einen zerschlissenen Lederbeutel, als könnten diese wertlosen Dinge irgendeinen Schutz bieten. Hinter ihnen prallt grobes Gelächter gegen die gedämpfte Pracht der Halle, ordinäre Späße über Götter, Eide und Herrensitze, die hier aber dumpf werden, als würde die Luft sie verschlucken.

Der breitschultrige Hauptmann an der Spitze, die Narbe über der Oberlippe wie ein gespaltenes Silberstück, geht ein paar Schritte weiter, dann stockt sein Blick. Das Silberadernherz des Oath-Steins steht nicht mehr nur als Stein im Halbdunkel; etwas in ihm erkennt die Art Macht, die er sucht, ohne ihren Ursprung zu begreifen. Langsam kriecht ein Grinsen über sein Gesicht, gierig und vertraut, als erkenne er in dem Runenblock ein Werkzeug, das er versteht: ein Ding, das aus Angst Ketten macht, aus einem einmal gesprochenen Wort einen Käfig, der nie mehr aufgeht.

Von Norden her hält der Wald am längsten dicht, als wolle er diese dritte Spur verbergen; dann weicht das Gestrüpp ohne Rascheln auseinander, und sie stehen plötzlich zwischen den äußeren Bogenreihen. Keine Flüche, kein Gelächter, nur das gedämpfte Klirren von Ringpanzern und das leise Knarzen geölter Lederriemen. Männer in Kettenhemden, mit geschwärzten Wappenröcken, deren zerschlitzter Stoff nur noch in Negativform ein aufbäumendes Tier ahnen lässt – ein Haus, das seinen Namen auslöschen will, nicht seine Ansprüche.

Sie gehen wie Jagdhunde: Schilde dicht, Schritte gleich, Gesichter unter offenen Helmen unbewegt. Die Schwerter sind bereits gezogen, doch an den Handgelenken der Vordersten zuckt ein kaum merkliches Zittern, als Eichenkrones Widerwille gegen blanken Stahl in das Eisen sickert. Klingen, sonst leicht wie ein weiterer Finger, hängen plötzlich schwer, als zögen unsichtbare Wurzeln daran. Einer der Männer presst unwillkürlich die Lippen zusammen, als sein Hieb in die Luft langsamer wird, als er sollte.

In ihrer Mitte trägt ein schmaler, älterer Söldner ein längliches Bündel, sorgfältig in geöltes Tuch geschlagen, mit Flachschnüren kreuzweise verschnürt. Bei jedem Schritt antwortet es mit einem gedämpften Klirren und dumpfen Aneinanderschlagen: Metall auf Metall, feinere Töne dazwischen, als lägen Sigillenringe oder Petschafte neben längeren Eisenstücken. Dokumente, Reliquien, Fesseln – all das, was man braucht, um einen Menschen nicht nur zu töten, sondern aus der Geschichte zu tilgen oder ihr neu einzuschreiben.

Sigerhild, die aus ihrem Schattenwinkel unter den inneren Bögen zu ihnen hinüber späht, spürt die Spur von Weihrauch und kaltem Kirchstein an ihnen haften, verwaschen über dem metallenen Geruch. Keine offenen Zeichen der Kirche, keine sichtbaren Kreuze – und doch jener harte Zug um Mund und Augen, den sie von Männern kennt, die auf Befehl edler Hände sauberes Werk im Schmutz verrichten. Bernulfs Blut, fährt es ihr durch den Sinn, hat solche Schritte schon einmal gehört.

Als die drei Fäden des Einbruchs wider Willen in dieselbe große Mittelgasse gepresst werden, fühlt Sigerhild, wie sich die Geometrie der Halle um sie legt wie ein zugezogener Strick. Die lebenden Pfeiler neigen sich kaum merklich, ihre Äste verschränken sich zu einem Trichter, der jede Spur auf den niedrigen, silbergeäderten Monolith im Zentrum lenkt. Fackeln, eben noch rußig-gelb, stolpern in ein kaltes, bläuliches Flackern, je näher sie kommen; der gewohnte Waldlärm stirbt ganz, nur das vielstimmige Säuseln der Blätter bleibt, wie überlagerte Streitgespräche in einer Sprache, die nur der Stein noch kennt. Jeder Schritt näher zieht an ihren Knochen, als wögen unsichtbare Hände nicht ihren Leib, sondern die Summe aller Eide, die sie verhökert, verraten, zerschnitten hat.

Der erste Absatz der Rotte setzt den Fuß in den eingeritzten Ring, und die Halle antwortet. Ein kalter, metallischer Geschmack schießt allen zugleich in den Mund, als hätten sie sich gemeinschaftlich auf die Zunge gebissen; die flachen Adern im Herz des Steins fahren von stumpfem Blei zu flüssigem Silber auf, Runenlinien zucken darunter wie Augenlider im Traum. Die Echos verdichten sich: Fetzen uralter Schwurformeln, ferne Schlachtrufe, gewürgte Flüsterbündnisse, die sich unter das Gebrüll der Eindringlinge legen, bis jedes Wort sich anfühlt, als trete man auf dünnes Eis. Sigerhild weiß, mit derselben schmerzhaften Gewissheit wie damals, wenn der Blick eines Gottes ihr das Genick hinabglitt, dass der Urbund in diesem Ort gerade so weit erwacht ist, um zuzuhören – und dass jeder Eid, erpresst oder freiwillig, von nun an nicht mehr Sterblichen allein gehören wird.

Der Befehl des Hauptmanns schlägt nicht wie ein Ruf durch die Halle, sondern wie ein Beil in morsches Holz.

„Schwör meinem Herrn – oder der Bengel verreckt hier und jetzt.“

Das Wort „schwör“ knirscht zwischen seinen Zähnen, schwerer als jede Klinge in seiner Faust. Sigerhild hält unwillkürlich den Atem an, halb erwartend, dass Eichenkrone sich wehrt, dass der Wald selbst die Drohung verschluckt und zu Pulver kaut. Doch nichts bricht. Kein Ast kracht, kein Laut zerreißt den Satz. Stattdessen senkt sich die Stille tiefer, und der Stein trinkt.

Die Silberschlieren im Oathstein fahren auf wie Glut, die unter toter Asche wieder Atem bekommt. Runenlinien, eben noch träge wie erloschene Narben, beginnen zu glimmen, zuerst matt, dann mit einem inneren, kranken Licht, als legte jemand gelobte Worte Schicht um Schicht in unsichtbare Furchen. Die Luft um den gefesselten Jungen zieht sich zusammen; sein Kehlkopf zuckt, als lege sich eine unsichtbare Schlinge darum. Er hustet trocken, obwohl niemand ihn würgt – nur der ausgesprochene Wille, der hier plötzlich Gewicht bekommt, als wäre ein Urteil bereits im Fallen begriffen.

Bernulf erstarrt. Für einen Herzschlag lang sieht er aus wie das Kind, das er der Welt nie mehr zeigt: zu jung für einen Eisenring, zu mager für einen Thron aus Angst. Sein Blick springt, hastig wie eine Maus, von dem Knien des gefangenen Laufers zu den groben Händen, die dessen Schultern niederdrücken, weiter zu den bläulich flackernden Fackeln und schließlich hinauf zu dem Stein, der die Drohung mit kaltem Interesse aufnimmt. Nirgends ein Schattengang, kein loser Brettersteg, keine alte Mauerspalte, in die man einen Jungen, eine Gruppe, ein ganzes Elend verschwinden lassen könnte. Die üblichen Auswege – Bestechung, Bluff, plötzliche Flucht in einen Seitengassenhals – lösen sich, sobald er sie denkt, in diesem Raum auf.

Er spürt das Ziehen in seinem eigenen Ring wie einen beginnenden Krampf; feine Härchen auf seinem Unterarm stellen sich auf, als etwas Unsichtbares prüfend an den bereits geschworenen Banden rüttelt. Der alte Eid, der ihn zum Herrn seiner Kinderbande machte und zum Knecht von Leuten, deren Namen er nie ganz erfahren hat, regt sich wie ein gereiztes Tier. Der neue Befehl des Hauptmanns legt sich quer darüber, sucht nach Fugen, nach offenen Stellen, nach Platz im Fleisch seiner Seele.

„Herrchen,“ keucht der gefesselte Läufer, kaum hörbar, die Stimme schon brüchig von der unsichtbaren Enge um seinen Hals. „Bernulf… bitte.“

Das „Herrchen“ trifft ihn härter als jede Beleidigung. Er hebt das Kinn, weil ein Boss das so tun muss, und seine Lippen formen Worte, die noch keinen Laut haben. Zwischen ihnen und der Luft hängt nur der Stein, und Sigerhild sieht, wie Eichenkrones uralter Bund sich weiter regt, neugierig wie ein alter Gott, der Witterung nach frischem Blut bekommt.

Sigerhilds Hand fährt wie von selber an die Leerstelle an ihrem Gürtel, wo der letzte heile Schutzknoten hängen sollte. Ihre Finger finden nur ausgefransten Strick und eine schartige Holzschuppe, in der noch ein Hauch verlöschter Runen steckt, stumpf wie alte Brandnarben. Der kleine Rest von Trost, der in dem Ding steckte – ein Schlupfloch, ein abgelenkter Blick, ein Atemzug mehr Zeit – ist fort, und sie fühlt den Verlust im Magen, nicht in der Hand.

Ihr innerer Stadtplan, der nie ganz verschwand, egal ob sie in Gassen oder unter Bäumen lebte – Kesselplätze, tote Winkel, Götternischen zum Untertauchen – legt sich wie Pergament in der Nässe zusammen. Sie tastet den Wald mit jenem zweiten Sinn ab, der ihr sonst Wege durch Hecken und Hinterhöfe zeigte, und stößt überall nur auf Schleifen, die sie wieder hierher treiben, an denselben kargen Ring aus rissigen Platten, den derselbe fremde Pulsschlag durchzieht wie früher einen Altar. Keine Seitenpforte, kein Schleichpfad, kein verborgener Stieg am Rand der Wahrnehmung: Eichenkrone hat alle Ausgänge zu einem einzigen Eingang umgeschrieben – und sie steht schon darin.

Die Inquisitoren des Tempels treiben sich wie ein roter Keil durch die zersplitterte Säulenhalle, die karmesinbestickten Mäntel vom Nebel schwer, gesäumt mit feuchtem Schmutz. Ihre Blicke tasten die zerbrochenen Sitze, die vernarbten Stufen, die schwarz gespannte Haut der verfallenen Spiegelbecken ab, als lasen sie ein Verhörprotokoll. Einer geht in die Hocke, die eisernen Beschläge seines Stabes klirren leise auf Stein. Mit zwei Fingern schöpft er zerquetschtes Brot, eine Spur Speck, aufgeweichtes Korn aus dem Matsch, verreibt es prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger, bis es zu einem grauen Brei wird.

Dann hebt er den Kopf, der Blick gleitet nicht zu Sigerhild, nicht zu Bernulf, sondern über sie hinweg, hinauf zum Stein.

„Beweis des Umgangs mit Eidbrechern in verbotener Halle“, spricht er, jedes Wort sauber abgesetzt, als diktiere er einem unsichtbaren Schreiber. Er adressiert nicht die Lebenden, sondern den lauschenden Oathstein selbst, die Lippen zu einem kühlen Lächeln verzogen, als habe er den ersten Absatz einer Anklageschrift bereits siegreich vor einem höheren Gericht verlesen.

Bernulfs übrige Läufer, die weder geschnappt noch vollends zerstreut wurden, kleben am ausgefransten Rand des Kreises: dürre Schatten an Wurzeltürmen und Säulen, ihre sonst sehnige Hast wie eingefroren. Keine Gasse, kein Dachfirst, kein Trümmersteg, in den man Nachricht schmuggeln könnte; jeder Versuch, sich weiter außen anzuschleichen, biegt sie lautlos zurück zum Stein, als habe die Geometrie dieses Ortes sie bereits abgestempelt – nicht als Spieler, sondern als gezählte Zeugen eines Urteils, das ohne sie doch nicht ganz gültig wäre.

Ein Windstoß fährt durch die ineinander verkeilten Eichen, und das leise Blättermurmeln schlägt um in ein angehaltenes Atmen, schwer wie vor einem Richterspruch. Die dunklen Wasserbecken am Hallenrand zittern; anstelle von Spiegelbildern ziehen blasse Heerscharen in altem Harnisch auf einen Oathstein zu, der unversehrt ist, glänzend von Opferblut. Über ihr dumpfes Raunen legen sich die Rufe der Erwachsenen, das wimmernde Schluchzen des gefangenen Jungen, dünn wie frische Tinte über einem längst geschriebenen Vertrag. Ein gleichzeitiges Frösteln fährt über Nacken und Zahnfleisch der Versammelten: Eichenkrone hat den Fall angenommen. Kein Davonlaufen mehr, kein Versteck – nur noch Worte, die bindend werden, und ein Preis, der in Fleisch und Zukunft bezahlt werden will.

Der Hauptmann stolpert nicht, er bricht herein wie ein schlecht geführter Rammbock, doch selbst sein Gewicht gerät ins Rutschen, als seine genagelten Stiefel den feuchten Flechtenkranz um den Oathstein treffen. Schiefergrüner Schleim schmiert unter den Sohlen weg, sein Körper wankt, und nur die Faust, die sich wie ein Eisenkloben um den Kragen des Knaben gelegt hat, hält ihn im Gleichgewicht.

Der Junge ist kaum mehr als ein Bündel in zu großem Wams, ein Läufer, den Bernulf sonst zwischen Wagenrädern und Marktschreiern verschwinden sah. Jetzt hängt er in der Faust des Mannes wie ein mißratener Hampel, die Füße finden den Stein nicht recht, die dünnen Schuhe schaben nur hilflos über kalten Fels.

Sein Gesicht ist zu einem einzigen verschmierten Fleck aus Erde, Blut und Tränen geworden; eine Wange glänzt naß, die andere bläht sich bereits schwärzlich auf, das Auge darunter zu einem schmalen Spalt verengt. Aus dem Nasenloch rinnt noch ein dünner Streifen Rot, den er nicht einmal mehr wegzuwischen versucht. Die linke Schulter steht seltsam hoch, der Arm baumelt darunter in einem Winkel, der nicht zu einem lebendigen Körper gehört. Ein gräßliches, leises Knirschen war zu hören gewesen, als der Hauptmann ihn draußen gegen Wurzelwerk und Pfeiler geschlagen hatte; jetzt reicht ein Stoß, um die Gelenke flackernd zu erinnern.

Als der Mann ihn hochreißt, um ihn besser zu präsentieren, schnellt der Körper des Jungen reflexhaft in sich zusammen, wie ein Tier, das noch nicht begriffen hat, daß Flucht nicht mehr möglich ist. Ein dünnes, keuchendes Winseln entkommt ihm, halb geschluckter Schrei, halb vom Schmerz verschluckter Atem. Mehrere der Kinder an den Rändern des Kreises reißen unwillkürlich die Schultern hoch, als wäre der Schlag über ihre eigenen Knochen gefahren; eines dreht den Kopf abrupt weg, preßt die Stirn gegen den borkigen Stamm einer Eiche, bis Moos unter der Haut knirscht.

Über alledem zieht sich das Blättermurmeln der Halleneichen straffer, kein weiches Rauschen mehr, sondern ein leises Schaben, als würden viele unsichtbare Zungen zugleich einen trockenen Gaumen befeuchten. Die Luft trägt plötzlich den Nachhall alter Namen, längst verlorener Zeugen, die doch noch wissen, wie so ein Schauspiel abzulaufen hat: Ankläger, Opfer, Stein.

Der Hauptmann grinst schief, als er das halb bewußtlose Bündel näher an den Steinkranz zerrt, und sein Atem dampft schwer in der kühlen, stillstehenden Luft des Saales. Mit der freien Hand wischt er sich Schweiß und Spritzer fremden Blutes aus dem Bart, seine Finger hinterlassen rote Spuren auf der verfilzten Strähne. In seinem festen Zupacken liegt kein Zögern, nur die plumpe Gewißheit eines Mannes, der daran gewöhnt ist, daß Kinderleiber nichts gelten, solange sie sich noch rühren.

Doch der Stein unter ihnen rührt sich in anderer Weise: ein kaum hörbares Knistern fährt durch die silbernen Adern, als speichere er jedes Zucken, jede Träne, jede gezerrte Sehne ab wie eine eifrig geführte Niederschrift, die erst auf das Urteil wartet.

Bernulf steht knapp außerhalb des Flechtenkranzes, genau an jenem Punkt, wo der Boden noch nach gewöhnlichem Waldboden aussieht und doch schon nachgibt wie ein zu straff gespanntes Pergament. Als er das Gewicht verlagert, knickt sein linkes Bein abrupt ein; nur ein hastiger Griff an eine knorrige Wurzel hält ihn davor zurück, der Länge nach hinzuschlagen und vor aller Augen zum Kind zu werden, das er längst nicht mehr sein darf. Unter dem geflickten Mantel brennt der Oberschenkel, tief durchzogen von dumpfem Schmerz, wo Stiefel und Knüppel der Erwachsenen ihn früher am Tag getroffen haben; jeder Atemzug reibt seine Rippen aneinander, als stießen Knochensplitter wie stumpfe Messer von innen gegen Fleisch.

Der Anblick des baumelnden Arms des Läufers fährt durch ihn wie ein sauber gesetzter Speerstoß unter den Schildrand. Für einen Herzschlag verschwimmen Hallenbögen, Gangzeichen, ferne Wappen in einem grauen Schimmer, der an Ertrinken erinnert. Seine Finger krallen sich um den zu großen Eisenreif an seinem Handgelenk.

Der Ring antwortet. Erst ein dumpfes Pochen, dann ein erhitztes Glühen, als hätte jemand ein schmales Stück Schmiedeglut um seine Knochen geschlagen. Die eingekerbten Runen unter dem Leder wickeln sich in seinem Bewußtsein auf wie Schlangen: Schwur, Gehorsam, Blut. Jeder Schlag seines Herzens treibt Hitze in die Hand, bis die Haut darunter prickelt, als würde sie Blasen werfen; der Instinkt schreit, das Ding abzustreifen, doch der Reif sitzt, uralt und unerbittlich.

Sein Atem geht in kurzen, zornigen Stößen, flach wie bei einem Tier, das in die Enge getrieben ist und nicht zeigen darf, daß es bereits lahmt. Er presst die Lippen so fest zusammen, daß der leichte Kupfergeschmack alten Blutes aufreißt, und zwingt die Lunge zu langsamerem Takt. Seine Läufer sehen zu ihm herüber, selbst jetzt, mit Tränen und Rotz im Gesicht, und die Männer jenseits des Steins lauern auf jedes Zittern. Also richtet er sich, so gut es die schlagenden Signale aus Bein, Rippen und brennendem Reif erlauben, ein wenig auf.

In seinem Innern jedoch reißt etwas auf wie ein zu hart gespanntes Siegel: eine fahle Ahnung, daß der Ring nicht nur seine Untergebenen hält, sondern längst begonnen hat, an ihm selbst zu ziehen, ihn auf den Stein zu, in die richtige Stellung für ein Urteil, das er nie freiwillig gesprochen hätte.

Ein scharfes Schnarren schneidet durch das ungleichmäßige Keuchen der Versammelten, noch ehe jemand den Ruf des Schützen formen kann. Zwischen den ineinander verschränkten Ästen, dort, wo Schatten wie verbrannte Tücher hängen, löst sich ein Inquisitor aus dem Dickicht, nur als bleicher Umriß zu erkennen. Die Sehne seines Bolzenschusses singt kurz auf, dann zischt der Pfeil wie ein schwarzer Splitter durch einen Spalt im lebenden Gewölbe. Für einen Herzschlag scheint er zu rasen – dann bremst ihn die Luft, als sei sie zu Wasser geronnen, schiebt ihn träge voran, lenkt seine Bahn. Statt ihr Herz zu durchbohren, schrammt die eiserne Spitze an Sigerhilds Oberarm entlang, reißt Stoff und Fleisch gleichermaßen auf.

Kälte, keine Hitze, fährt in die Wunde, so scharf, daß ihr Atem im Hals stockt. In der Furche, die der Bolzen hinterläßt, glimmen unsichtbare Schriftzeichen auf: geschnitzte Fremdnamen, fernländische Weihen, die wie feine, grelle Funken in ihr Fleisch springen. Für einen Augenblick stürzen sie sich gierig in Adern und Nerven, wollen sich einnisten wie Parasiten eines fremden Himmels. Doch Eichenkrone antwortet. Unter den Sohlen der Versammelten vibriert der Stein kaum merklich, die alten Runen in den Silberadern flackern; ein dumpfer Widerhall alter Schwüre schiebt sich zwischen ihre Kehlen und das Eindringen der fremden Worte.

Die Gottheiten jenseits des Waldes knistern, fauchen, werden stumpf. Die eingebrannten Silben zucken, flackern auf dem Blutrand, erlöschen dann eine nach der anderen wie Kerzen im Zugwind, bis nur grauer, geistloser Staub zurückbleibt, der in der Wunde versickert. Der Schmerz brennt weiter, doch nun wie reines, tierisches Feuer, nicht mehr wie ein Befehl.

Ihre Knie geben kurz nach, der Stab kippt in der Hand, und nur ein schneller Ruck aus dem Rücken heraus rettet sie davor, vor aller Augen auf den Stein zu fallen. Unter dem zerrissenen Mantel pocht es heiß, jeder Herzschlag treibt einen neuen, warmen Schwall Blut in den Stoff. Als sie die Finger gegen den Stoff preßt, um das Leck abzudrücken, quillt es zwischen ihren Gelenken hervor, dunkel und glatt, läuft die Innenfläche hinab und sammelt sich klebrig in der Mulde ihrer Hand. Der Schaft des Stabes wird schmierig, der Griff verrät sie; bei jeder Bewegung droht er ihr aus der Hand zu glitschen, als wolle selbst das Holz sie lossagen, wenn sie wankt.

Der Ruck schickt eine neue Schmerzflut an ihrer Seite empor, schneidend klar, als zöge jemand mit einem Haken längs an Rippen und Nerven. Jeder schlaflose Nachtweg hierher flammt darin auf, jede Wurzel, jeder kalte Graben. Hinter ihren Lidern schärft sich der dumpfe Druck zum splitternden Stich, bis selbst die trüben Spiegelpfuhle an den Rändern des Hallenkreises – dort, wo schwarzes Wasser in flachen Becken steht – ihre blassen Umzüge aus Helden, Hörigen, Toten rascher treiben, zielstrebiger, als hätten die Schatten begriffen, daß nun verhandelt wird.

Sie preßt die Kiefer aufeinander, spürt Blut an einer alten Bisswunde aufreißen, und läßt zwischen den Zähnen eine halberinnerte Waldsegenformel hervorrinnen, kaum mehr als heiseres Kratzen. Kein fremder Heiland, kein fernes Licht – nur der knorrige, dunkle Name eines alten Hainherrn, der in ihrer Kehle rauh wird und dann im Hallendämmer hängenbleibt wie Rauch. Etwas in den Silberadern des Steins zuckt zustimmend; der Laut hakt ein, trägt sich, wo der fremde Gottname vorhin stumpf zersplittert war.

Doch der Preis stellt sich sofort ein. Schwere kriecht ihr in den verletzten Arm, nicht die helle Lähmung eines Giftes, sondern das dumpfe Absacken ausgepreßten Blutes. Wärme rinnt ab wie Wasser aus einem angebohrten Faß, läßt die Finger klamm werden, während der Stoff des Mantels sich saugend an die offene Furche legt, kalt und naß. Unter ihren Fingern pulst es weiter, ein störrischer, stoßender Takt, der die improvisierte Binde bei jedem Herzschlag heben will.

Der Schmerz nimmt dabei einen eigenen Rhythmus an, ein dumpfes, hartnäckiges Hämmern, das sich zwischen die leise Blätterstimme und die heiseren Rufe der Männer schiebt. Es stampft Schlag auf Schlag gegen ihre Schläfen, will alles andere zudecken: das Abwägen von Worten, das schmale Gefühl für Schlupflöcher in Schwüren, das Messen der Abstände zwischen Stein, Kind und Klinge. Einen Augenblick lang fürchtet sie, in diesem rot pochenden Dröhnen zu versinken wie in Morast – und zwingt sich, das Pochen zu zählen wie bei einem Ritus, jedem Aufblitzen von Schmerz einen nüchternen Gedanken hinterherzuwerfen, ehe es sie ganz verschlingt.

Bernulfs Hand, suchend nach Halt, krallt sich um den zu großen Schwurreif, und das Eisen antwortet mit einer wütenden, fiebrigen Glut, die durch Leder und Runenschnur beißt. Blasen schießen ihm sofort an Handballen und Fingern hoch; er zuckt, preßt die Zähne ineinander, weil zu viele Blicke an ihm hängen.

Die unsichtbaren Klauseln des Rings summen an der Grenze seines Gehörs, ein wortloser Druck, der die Ränder der Welt weich macht, als habe jemand Wasser über Tinte gegossen. Ihm wird übel, der Magen verkrampft sich, als beuge sich nicht nur der Reif, sondern die ganze Halle über ihn, lauschend. Die heiseren Schluchzer des verletzten Läufers, fernes Fluchen der Inquisitoren im Gebälk und Sigerhilds scharfer Schmerzenslaut verfilzen zu einem einzigen Geräuschteppich, unter dem seine Gedanken reißen wie zu dünner Faden.

Was bleibt, ist ein nackter, tierischer Instinkt – und die erdrückende Gewißheit, daß jede Entscheidung, die er hier trifft, Narben hinterlassen wird, die tiefer gehen als verbrannte Haut.

Der Ruf des Hauptmanns fährt wie ein Peitschenhieb durch die gedämpfte Luft der Halle, rauh und heiser, die vorgetäuschte Lässigkeit nur ein dünner Firnis über nackter Panik. „Auf die Knie, kleiner Herr!“ brüllt er, die Stimme überschlägt sich am Ende, „schwör’ ihn zu deinem Herrn – oder das Balg nährt diesen verfluchten Stein mit seinem Blut!“

Seine Faust krallt sich tiefer in den zerrissenen Kragen des Jungen, zerrt den dürftigen Leib so weit nach hinten, daß die Wirbel unter der verschmierten Haut aufknacken wie schlecht gestapeltes Holz. Der Kopf kippt zurück, der Adamsapfel arbeitet hilflos, während die Messerklinge sich ihren hohl glänzenden Halbmond unter das zarte Fleisch der Kehle drückt. Ein dünnes Zittern läuft durch den Arm des Mannes, nicht aus Mitleid, sondern weil das geschlossene Holzgewölbe selbst gegen den blanken Stahl drängt.

Die Luft um die Waffe ist dichter als anderswo, als hätte jemand kaltes, unsichtbares Wasser über Klinge und Hand gegossen. Die Schneide schneidet dennoch, aber nur widerwillig: dort, wo sie die Haut berührt, schwitzt das Eisen bereits erste, dunkle Sprenkel, der Glanz an der Schneidkante mattet, als zöge sich ein feiner Hauch Rost wie Reif über das Metall.

Es reicht. Ein haarfeiner Riß öffnet sich unter der Spitze, und ein roter Faden tritt hervor, perlt zögernd an der Delle der Klinge entlang. Der Tropfen sammelt sich, schwer vom eigenen Gewicht, löst sich dann und fällt. Das Geräusch, mit dem er auf dem Oathstein aufschlägt, ist im Dröhnen der Rufe winzig – und doch spürt jeder, der im Kreis steht, wie die Silberadern im Innern des Felsens darauf antworten. Ein leises, durstiges Aufleuchten, kaum mehr als ein kalter Schimmer unter der Oberfläche, zieht sich durch die verwitterten Runen.

Der Junge keucht, ein hoher, abgehackter Laut, bei dem die Brust kaum Luft bekommt. Schmutz und getrockneter Schweiß bilden stumpfe Streifen an seinem Hals; zwischen ihnen leuchtet das frische Blut wie ein fremder Edelstein. Seine Hände, auf den Stein gezwungen, rutschen über feuchte Moose und altes Opferwachs, finden keinen Halt. Jeder Versuch, sich vom Messer fortzubeugen, treibt ihn nur fester gegen die Faust im Kragen.

„Siehst du das, kleiner Herr?“ zischelt der Hauptmann dicht an seinem Ohr, der Ruf von eben bröckelt zur kehligen Drohung. „Der Stein nimmt, was man ihm hinwirft. Ein Wort von dir, nur eins – und der Junge lebt. Weigerst du dich…“ Er bricht ab, läßt die Klinge einen Hauch weit über die Haut hinziehen. Der nächste Tropfen läuft bereits, warm und träge, und versickert in einer schmalen, dunklen Linie, die genau auf die Stufe des Steins fällt, an der Bernulf stehen müßte, wenn er vortreten würde.

Das Hallendunkel scheint sich um diese winzigen Flecken Blut zu verdichten. Zwischen den verschlungenen Astsäulen flackern Schatten, als lehnten sich längst verfallene Zuschauerreihen näher. Der unsichtbare Druck der alten Schwüre, der eben noch dumpf im Gestein geschlafen hat, regt sich, als koste jemand prüfend an einem ersten, vorgeworfenen Bissen.

Ringsum schließen sich die zerstreuten Jäger wie Zähne in einem halbverfaulten Maul. Die Inquisitoren, Rauch und altes Fett in den gesäumten Spalten ihrer rußbefleckten Gewänder, drängen sich in die gebrochene Säulenreihe, Sonnenräder dumpf aufflackernd, wenn ein Rest von Hallenlicht darüberstreift. Ihre Finger fahren vor, spitz wie Messer, immer wieder auf den dunklen Umriß unter der Kapuze gerichtet. „Blasphemia! Schwurverderbnis! Waldzauberei!“ Die Worte prallen hart von Stein zu Stein, jeder Ruf gleich wieder gehetzt überschrien von dem lockenden Singsang der Absolution, die sie den Umstehenden anbieten: Gnade für Verrat, Heilszusagen für eine ausgestreckte Hand, die auf sie zeigt.

Hinter diesem gellenden Kreis bewegen sich die Leute des kleinen Edelmanns lautloser, mit kälterer Absicht. In Leder und schmalen Harnischen gleiten sie zwischen die Astpfeiler, als gehörten sie eher in eine gepflegte Gerichtshalle als in diesen lebendigen Waldstein; doch ihre Augen sind stumpf, geschult. Ihre Hände ruhen locker auf Schwertknäufen, deren Gewicht ihnen das Holz unter den Stiefeln etwas weicher macht, aber die Klingen bleiben auf Armeslänge tödlich, wo der Widerstand der Hallen sich noch nicht ganz schließt.

Sie teilen sich wie ein Fächer, versiegeln unauffällig jeden Schattengang zwischen den verwitterten Basen, bis jeder mögliche Rückzug nur noch in Richtung des Steins weist – oder in den engen Spalt zwischen fremder Gnade und lautloser Klinge.

Sigerhild nimmt den sich zuziehenden Ring in einem Herzschlag Maß: die Inquisitoren, die sie ebenso gern auf einem Scheiterhaufen sähen, wie sie ihre Hände in die Silberadern des Steins krallen würden; die verschwiegenen Mörder, deren eigentlicher Auftrag in dem Jungen neben ihr pulst; der Hauptmann, halb Bestrafer, halb Bittsteller, trunken von einer Macht, deren Preis er nicht ahnt.

Die gedämpfte Hallenluft dickt ein, gesättigt von Schweiß, Eisen und dem faden Nachhall alten Weihrauchs. Rufe überlagern einander, Drohungen mit Heilsversprechen, kalte Angebote mit heiligem Gift getränkter Gnade; Stimmen verhaken sich wie Widerhaken in Fleisch, bis jedes Wort zum Stolperdraht wird.

Über diesem Lärm klingt das Blätterflüstern plötzlich gerichtet, scharf – wie ein Atemzug vor dem gesprochenen Urteil.

Bernulf steht nur einen halben Schritt vor den ausgetretenen Stufen, als hätte der Wald selbst ihm Wurzeln durch die Knöchel getrieben. Der mißbrauchte Eidring brennt in seiner Faust, jeder pochende Schmerz reißt seinen Blick hin zur Messerspitze an der Kehle des Jungen, dann zurück zum erwartungsvollen Grinsen des Hauptmanns. In der harten Maske seines Gesichts zucken die Abbilder der anderen Kinder auf – schmutzig, hungrig, treu bis zur Torheit, alle mit Augen, die zu viel Nacht gesehen haben. Dahinter, im Augenwinkel, flattern im Hallendämmer die Schatten eines Wappentuchs, das er nur noch aus zerfetzten Winterträumen kennt, Farben ohne Namen, ein Löwe ohne Zähne. Sein Kiefer mahlt, die Schultern richten sich in jene brüchige Geradheit, die er sich von Männern am Richtplatz abgeschaut hat: die starre Haltung eines, der viel zu jung entscheiden soll, wessen Leben als Münze für die anderen gelegt wird.

Als Bernulfs Blick endlich zu ihr gezerrt wird, dünnt der Lärm wie Wasser auf heißem Stein. In dem kurzen, geteilten Atem liest sie das Urteil, das er für unabwendbar hält: einen opfern, um die vielen zu retten – oder sich weigern und alle zwischen Tempelrecht, Standesehre und Gasseneden zermahlen lassen. Kein Winkelzug, kein halbherziger Klauselspruch wird etwas bedeuten, solange er nur diese beiden Türen sieht. Sie spürt das unsichtbare Gewicht seines ersten Schwurs gegen ihre Rippen drücken, fühlt, wie die Halle mit ihm näher rückt, lauschend. Mit kalter, schneidender Gewißheit begreift sie, daß dieser Augenblick ihn – und den würgenden Jungen zu Füßen des Steins – an ein fremdes, blutdurstiges Urteil fesselt, wenn sie diese falsche Wahl nicht jetzt sprengt.

Das Messer an der Kehle des Jungen zittert, nicht aus Mitleid, sondern weil die Hand, die es führt, von Gier vibriert. Die Schneide drückt tiefer, ritzt nur die oberste Hautschicht, doch das genügt: ein dünner, glänzender Rotstrich quillt hervor, scharf wie ein geschriebenes Zeichen. Der Atem des Jungen stolpert, bleibt hängen, stößt wieder an, flach und hörbar in der gedämpften Luft. Seine Augen sind weit aufgerissen, nicht am Hauptmann festgezurrt, nicht am Stahl – sondern an Bernulf, als wäre alles, was zählt, nicht die Klinge, sondern das Wort, das von dort kommen oder ausbleiben wird. Kein Laut entreißt sich seiner Kehle; sein Schweigen ist schon ein halber Schwur, den niemand ihm zugesteht.

Um sie her legt sich das zersplitterte Rund der Versammelten wie ein zerbrochener Kranz. Die Inquisitoren, die den Schlamm und das Blut ihrer Anreise noch an den Saum ihrer heiligen Stoffe tragen, stehen etwas abseits, Finger um Schlaufen von Gebetsketten gekrallt, als wollten sie im nächsten Augenblick Segen oder Verdammung gleichermaßen schleudern. Ihre Blicke kleben an Bernulfs Ring, an den Silberadern im Stein, an Sigerhilds verborgenem Mal – wie Männer, die im Dunkel den Griff eines längst gesuchten Schlüssels ertasten.

Näheres beim Hauptmann drängen sich die Straßenmänner zusammen, breitbeinig, Schwielenhände an Knüppeln und Schwertern, deren Gewicht hier schon merklich gegen sie arbeitet. Doch keiner wagt, die Waffe ganz zu senken. In ihren Gesichtern liegt die Rechenkunst der Gasse: Was bringt ihnen ein kindlicher Fürst unter fremder Leine, was ein toter Bote, was die Gunst der Tempelherren? Jedes mögliche Geschäft schimmert ihnen kurz in den Pupillen, dann verlöscht es wieder, ersetzt durch rohe, abwartende Gier.

Weiter hinten, halb im Schatten der lebenden Säulen, stehen die getarnten Edelleute, deren Klingen und Wappen unter grauen Reisemänteln verborgen sind. Sie schweigen am lautesten. Nur hin und wieder flackert im Halbdunkel das fahle Aufblitzen einer polierten Klinge oder eines Ringes – Zeichen eines Standes, der nicht gesehen werden will, aber Anspruch auf das Blut des Jungen erhebt. Ihre Augen sind kalt, abwägend: ein letzter, unsauberer Ast am eigenen Stamm, den man notfalls bereit ist, mit einem Schnitt zu lösen.

Die Halle saugt dieses Schweigen auf, dehnt es, macht daraus eine Schale, in der ein einziges Wort schwer genug wäre, alle zu ertränken. Sigerhild spürt auf der Zunge den metallischen Film des frischen Blutes, der sich mit dem dumpfen Nachhall alten Weihrauchs mischt. Eisen und Opferrauch, denkt sie, die alte Paarung. In den Winkeln ihres Hörens regt sich etwas – nicht Stimme, nicht Wind, eher das sperrige Erwachen eines Untiers, das den Geruch von Blut und Versprechen in derselben Spur wittert.

Das Messer zuckt abermals; ein Tropfen gleitet von der Schneide, fällt auf die erste Stufe vor dem Stein. Wo er auftrifft, klingt es leise, zu leise für normales Ohr – doch Sigerhild hört es wie den fernsten Schlag eines Opferbeils auf nassem Holz. Das Tier im Gemäuer hebt den Kopf.

Unter ihren Sohlen wird das kaum merkliche Beben zur tiefer gehenden Regung, ein dumpfes Pochen, das sich an den gehetzten Schlag des Jungen hängt und an das langsamere, gequälte Pulsieren in Bernulfs Ring. Das Eisen an seiner Hand wirkt wie ein zweites Herz, das im Takt der Hallenadern antwortet. Die Silberadern im Stein flammen auf, verlöschen, flammen wieder, als zögen unsichtbare Lider sich prüfend zusammen, wägend, welche Worte ihnen den reichsten Knoten aus Blut, Stand und Meineid liefern würden.

Für Sigerhild, deren Augen in dunklen Schreinen geübt wurden, sieht der Raum plötzlich aus wie ein Spinnhaus: feine, glänzende Fäden schießen vom Stein aus, tasten sich an Luft und Fleisch heran, schlingen sich erst zögernd, dann gieriger um Handgelenke, Kehlen, Zungen. Sie kriechen zum Hauptmann, kosten von seiner Drohung; streifen die zitternden Schultern des Jungen; fahren – wie angezogen – in Richtung Bernulf, wo alter Schwurrauch schon ansetzt. Zwischen ihnen allen klaffen kleine Lücken, unsichtbare Schlupflöcher im Gespinst. Die Halle aber tastet auch nach ihr. Ein dünner Strang streift ihren Knöchel, kalt wie Wasser in Winternächten, prüfend, ob sie Beute oder Werkzeug sein wird.

In dem Aufblitzen dieser Schau fährt sie die Gabelungen ab wie ein geübter Rechner Strichlisten. Da ist der Weg, auf dem Bernulf die geforderten Worte formt, jedes Silbenpaar schwer wie Erz; der Stein saugt sie gierig ein, und die unsichtbaren Ketten um sein Handgelenk werden zu einem Geflecht aus eiserner Schrift, das nicht nur seine Hand, sondern Zunge, Blick, Atemzug verschlingt, bis kein Entweder-oder mehr bleibt, nur das stumpfe Vollziehen fremden Willens.

Da ist der andere: sein Schweigen, sein Nein, und die Klinge, die konsequent wird. Die Kehle des Jungen reißt auf wie eine schlecht gefügte Naht, heißes Blut spritzt in einem Bogen gegen den Sockel des Steins. Die Halle atmet scharf ein, nimmt den ersten ungebetenen Mord seit Menschenaltern wie ein Trunk nach langer Dürre.

Keiner der Wege endet hier im Kreis. Beide kriechen hinaus wie Risse im Wintereis: erst durch das zitternde Netz seiner Kinder – die kleinen Könige der Gasse, die er zu schützen glaubte –, dann weiter in die dunklen Gassen der Städte, unter die bemalten Balken der Herrenhäuser jenseits des Waldes. Und tiefer noch, in Wurzeln hinab, wo unter Eichenkrone etwas Altes liegt, das auf Odem von Blut und Schwur wartet, um wieder wach zwischen Menschenworten zu wohnen.

Sie hetzt durch Möglichkeiten wie durch enge Gassen im Dunkel, sieht sie schon scheitern, noch ehe sie zu Ende gedacht sind: ein Sprung nach dem Handgelenk des Hauptmanns, der hier, wo Stahl und Hast gedämpft werden, zur plumpen, langsamen Geste verkommt; ein herausgebellter Fluch der Tempel, der, kaum dass ihre Finger zufällig den Stein streifen, vom Hallenwillen als wörtlicher Schwur gefasst und mit Schmerz in Fleisch und Mark eingetrieben würde; ein gespieltes Einlenken, Worte des Scheinfriedens, die diesen einen Jungen aus der Schlinge lösten, indem sie hundert andere mit gleichem Eisenzeichen zeichneten. In jeder Variante endet der Weg gleichermaßen: hier, zu Füßen des Steins, wo Eichenkrone lauert, das erste laute Wort zu packen und es wie einen Keil in Blut, Ring und Zukunft zu treiben.

Das Gewicht der Entscheidung senkt sich auf ihr Brustbein, ein so scharfer Druck, dass ihr kurz schwarz vor Augen wird. Dies ist nicht bloß eine Geisellage in vergessenen Steinen, sondern die Eröffnungsklausel eines Bundes, den die Halle selber zu zeichnen giert. Deutlicher als jedes geflüsterte Omen spürt sie: Schweigen ist hier so bindend wie Zustimmung; lässt sie Bernulf allein antworten, wird Eichenkrone seine Wahl als Einverständnis nehmen, über Blut und Kinderstadt zu richten. Mit dieser Erkenntnis kommt eine harte, fast schmerzhafte Klarheit: Sie kann den Schnitt nicht ausweichen, nicht weichreden; sie muss zwischen Jungen und Stein treten, zwischen wachendem Gott und halbfertigem König, und ein anderes Geschäft anbieten, ehe die Halle für sie alle entscheidet.

Sie holt Luft, flach zuerst, dann tiefer, bis der Atem nach Metall und Moos in ihre Lungen beißt. Für einen kranken Herzschlag klappt die Welt wie ein Messer mit zwei Klingen: Die Faust des Hauptmanns in den Haaren des Jungen flimmert, wird zu einer anderen Hand, grob auf einem knienden Mädchenschädel, Jahre und Städte entfernt. Damals auch ein Kreis von Gesichtern, halb gierig, halb abgewandt; damals auch ein Stein, eine Stufe, Rauch von billigem Harz und kaltem Schweiß. Die gleiche Spannung kurz vor dem Wort, das alles besiegelt.

Ihr verletzte Schulter brennt auf, als wäre der alte Schlag eben erst gefallen. Jeder pochende Stoß Blut hämmert ihr dasselbe zischende Urteil in die Knochen: Du hast nichts gelernt. Du hast dir das verdient. Du wirst zusehen, wie es noch einmal geschieht. Sie sieht ihre eigene Hand, wie sie damals die Rune zog, sachlich wie ein Schreiber, der einen Strich mehr in ein Register setzt. Sie erinnert sich an die Stimme des beauftragenden Offiziers: „Nur der Gott soll entscheiden.“ Und wie sie diesen Satz dankbar wie einen Schild angenommen hat – eine Ausrede in heiligem Tonfall.

Dasselbe leise Angebot öffnet jetzt wieder den Rachen in ihr. Es wäre so leicht, hier zu stehen, Hände sauber, Mund still, und der Halle die Schuld zu überlassen. Lass Eichenkrone seine Zähne schließen, flüstert etwas in ihr, nenn es Prüfung, nenn es Urteil. Du bist nur Zeugin. Du bist nur Werkzeug. Diesmal wird es wahrer sein als damals.

Ihr wird übel von dieser Süße. Der Geschmack von Weihrauch und kaltem Blut mischt sich mit dem Moder der alten Eichen. Sie beißt die Kiefer so hart zusammen, dass ein dumpfer Schmerz in die Schläfen schießt. Nein. Sie zwingt den Gedanken, Laut zu werden in ihr, ohne Schminke, ohne Anlass: Es war nie „nur der Wille der Götter“ gewesen. Nicht dort, nicht hier. Es war immer auch die Feigheit derer, die daneben standen und sich hinter Formeln verbargen.

Sie merkt, wie ihre Finger unbewusst das Lederband unter ihrem Ärmel suchen, das längst keinen Ring mehr hält. Die Stelle ist nackt, doch das Gespinst der alten Schwüre brennt noch in der Haut. Damals hatte sie geschwiegen, weil ihr Leben, ihre Stellung, ihr sorgfältig gespanntes Netz aus Gnaden und Gefälligkeiten dranhingen. Jetzt ist nichts mehr übrig, das sich lohnte, um den Preis eines weiteren Kinderhalses gerettet zu werden.

Der Saum ihres Mantels streift kalten Stein, als sie unwillkürlich einen halben Schritt nach vorn macht. Die Halle reagiert, kaum merklich: ein Zögern im Raunen der Blätter, ein kurzer, gespannter Stillstand in den Schatten über den Säulen. Sie spürt Eichenkrone wie ein lauschendes Tier, das prüfend die Nüstern hebt. Es wartet auf eine Wahl, auf ein Wort, dem es Gewicht geben kann.

Sie könnte noch zurück. Der Hauptmann hält das Messer, nicht sie. Der Junge, den er zerrt, ist nur einer aus vielen in Bernulfs Netz. Die inquisitorischen Augen am Rand des Kreises würden sie gern sehen stolpern; ihre alten Komplizen im Schatten würden mit kalter Befriedigung zusehen, wie sie sich zwischen Gott und Klinge stellt. Nichts fordert von ihr, dass sie den Hals hinhält.

Nur die Erinnerung an das Mädchen von damals, das sie nie beim Namen genannt hat. Und Bernulfs starres Profil daneben, viel zu jung und viel zu alt, die Finger um den Ring gezogen wie um einen Henkerknoten. Er trägt den Stahl, den sie ihm geliefert hat, in seiner Art: nicht die Klinge, sondern das Wort. Wenn sie jetzt flieht – ob auf ihren Füßen oder ins stumme Innerlich –, wird er damit alleine sein.

Die alte, verführerische Entlastung – es ist nicht deine Entscheidung, es ist der Lauf der Dinge, der Wille der Götter, das Los des Waldes – schwillt in ihr auf wie Galle. Sie spürt sie am Gaumen, heiß und säuerlich, ein fast körperlicher Drang, den Kopf zu senken, das Gewissen in liturgische Formeln zu ertränken. Sie zwingt sich, sie nicht hinunterzuschlucken. Sie hält sie im Mund wie Gift, das sie erkennt, gerade weil ihr Körper es so gierig annehmen will.

Langsam, tastend, holt sie noch einmal Luft. Metall. Moos. Der ferne Hauch von altem Blut. „Nicht diesmal“, denkt sie, ohne es zu flüstern, denn schon der Hauch eines Wortes könnte hier Vertrag werden. Nicht noch ein Kind auf dem Altar eines bequemen Gottes. Nicht noch ein Schwur, bei dem sie sich hinter dem Stein versteckt.

Stattdessen greift sie nach dem Einzigen, was älter ist als ihre Kunst, zu verschwinden: nach dem Denken einer Priesterin. Nicht der angewärmten, gekauften Maske aus den Hafenvierteln, sondern dem harten Gerüst, das man ihr einst im Tempel in Knochen und Zunge geschliffen hat. Ihr Geist fährt wie eine kalte Hand durch Regale, die es hier nicht gibt, blättert unsichtbare Folianten auf: spröde Pergamente mit Rändern aus Moderflecken, Riten, bei denen der Rauch von Talgkerzen an gewölbter Decke hing, Stimmen von Altpriestern, die den Waldgöttern noch mit wirklicher Furcht begegneten.

Sie hört die alten Formeln, schwer wie Eichenholz, die Litaneien der Grenzsteine und Galgenhügel, jedes „So sei es“ ein Nagel. Dazwischen schieben sich die weicheren, gefährlicheren Satzmuster, die sie später in Hinterzimmern verhökert hat: Schlüpflöcher, Umschreibungen, kleine Verschiebungen von Subjekt und Objekt, mit denen ein Eid zwar noch vor den Göttern bestand, aber in Menschenhand anders griff.

Und dann, dahinter, wie ein schmaler, scharfer Pfad im Dickicht, erinnern sich ihre Gedanken an die Riten, von denen immer nur geflüstert worden war; die, die selbst Tempelrichter ungern beim Namen nannten. Seltene, lauernde Dinge, bei denen eine Dritte in den Ring trat, nicht als Zeugin und nicht als Vollstrecker, sondern als Herausforderin der Ordnung der Schwüre. Kein „Segne diesen und zerschmettere jenen“, sondern ein Anruf an den Wald selbst: dass er alle abgelegten Worte nehme, abwäge, gegeneinander lege wie Steine auf der Waage, und dann neu ordne, bis kein Schwörender mehr von reinem Sieg sprechen konnte.

Sie erinnert sich an die Warnung, die jedes Mal folgte, wenn ein Altpriester auch nur andeutete, dass es solche Liturgien gebe: letzte Messer, hieß es, die zuerst in die eigene Hand schneiden. Wer sich zwischen Götterrecht und Menschenrecht stelle, wer die Ordnung der Eide antaste, müsse seinen eigenen Namen mit auf den Stein legen, sein Blut als Pfand geben. Kein Austritt ohne Preis. Kein Eingreifen ohne das Risiko, selbst zum Knoten zu werden, den nie wieder jemand löst.

Nicht das Schlimmste davon, aber das deutlichste, schiebt sich jetzt zwischen sie und den Kreis: ein Kelleraltar, niedriger als dieser Stein, die Luft stickig von Talg und Angst. Ein adliges Balg, kaum älter als Bernulf, mit zu sauberem Hemd, an die kalte Platte gedrückt. Ihre eigene Stimme damals: glatt, sachlich, wie die Klinge eines Schreibers, der Zahlen addiert. Sie hatte einen Dienstschwur genommen und ihn, Silbe für Silbe, zu einem Gehorsamseid verflochten, weil der zahlende Patron genau das wollte. Das Kind lebte, ja; es stand auf, trug den Ring, wuchs in das Joch hinein und zerbrach andere mit demselben Band. Die Münzen von damals hatten ihren Weg aus der Stadt erkauft, falsche Papiere, ein neues Kleid. Die Schreie waren mitgereist, feine Fäden in ihren Träumen.

Dieselbe Spur will ihr Leib jetzt wieder nehmen: Worte drehen, Sinn beschneiden, so schwören, dass der Körper heil bleibt, die Seele aber in einer Schlinge hängt, die kein Gott sauber lösen kann. Ihre Finger beginnen schon, die alte Geste zu zeichnen – Daumen an Daumen, Handkante an Handkante – ehe sie sie brutal stoppt. Die Muskeln zucken, als hätte man sie im Schlaf ertappt. Übelkeit schwappt kalt durch ihren Magen, so heftig, dass ihr kurz die Knie nachgeben wollen. Wenn sie jenen Weg noch einmal geht, denkt sie, wird hier vielleicht niemand sterben – aber was dann vor dem Stein steht, wird schlimmer sein als ein Leichnam.

„Keine gekauften Eide mehr“, formt sie, wortlos fast, nur als Spannung in Zunge und Kiefer. Wenn sie überhaupt zur Kunst greift, dann nur zum ungeschönten Kern, den die Tempel ihr fast aus den Knochen geprügelt hatten: den Anspruch, im Namen des Waldes jeden auf Schwache gelegten Schwur in Frage zu stellen. Sie könnte vor den Stein treten und einen Streit der Gelöbnisse ausrufen – Bernulfs verfluchter Ring gegen diese neu geforderte Gefolgschaft –, die Halle einladen, zu wägen, zu schneiden, neu zu knüpfen. Aber dafür müsste sie aus der Lumpenhaut der Kräuterfrau heraustreten und in das volle, verbotene Gewicht dessen, was sie ist: Eidpriesterin, Deserteurin, Ketzerin. Jeder inquisitorische Blick würde sich in ihre Haut brennen; jeder Verbrecher hier würde in ihr plötzlich kein Schattenwesen mehr sehen, sondern eine Ware mit Preis und Risiko.

Der Preis stellt sich ihr mit schneidender Deutlichkeit in Reih und Glied: ihr falsches Leben in Fetzen, ihr Leib und ihre Seele hinterlegt als Pfand dafür, dass sie jedes Urteil der Waldgötter hinnimmt. Wenn der Ritus scheitert oder missfällt, wird der Rückschlag nicht zuerst Bernulf oder den gekrümmten Jungen treffen, sondern sie: Geist gespalten, Name aus den Götterlisten gekratzt, vielleicht das Fleisch selbst in den hungrigen Ritzen der Halle zermalmt. Und doch, dagegengewogen mit der gierigen Neigung dieses Ortes, einen Messerkönig aus Kinderknochen zu krönen, findet sie keine andere Münze, die schwer genug wäre, die Waage zu neigen. Also richtet sie sich, lässt die Kapuze zurück auf die Schultern fallen, legt die vernarbte Stirn bloß und geht auf den Eidsstein zu, bereit, sich selbst zu setzen als Einsatz für eine Rettung, die vielleicht nur sie allein verdammt.


Judgment in the Throne Circle

Der Hallenlauschen legt sich um sie wie ein nasser Mantel, als sie vor dem Eidsstein innehält, die Hand knapp außer Reichweite des kalten, silberdurchzogenen Gesteins. Die Adern im Stein zucken träge, als atmete etwas Tiefes darunter, als werde ein altes Tier widerwillig aus unheiligem Schlummer geweckt. Über ihr knarzen die verschlungenen Eichenbögen, doch kein Luftzug regt sich; selbst Bernulfs flacher Atem hinter ihr scheint vom Dämmerlicht verschluckt.

Sie spürt den Blick der unsichtbaren Reihen – keine Augen, nur Gewicht. Die alten Narben an ihren Schläfen beginnen dumpf zu brennen, als hätte jemand unsanfte Finger in vergessene Zeichen gelegt. Für einen Herzschlag flammt der alte Reflex auf: sich klein machen, zurück in den Schatten, die Stimme verstellen, ein anderes Spiel wählen. Weg von Steinen, die zurücksprechen.

Stattdessen richtet sie sich. Der Stoff ihres schlichten Mantels raschelt über den feuchten Platten, ein fremdes, lautes Geräusch in dieser gedämpften Welt. Sie denkt an die billigen Formeln, die sie einst verkauft hat – geschnitzte Eide für Meuchler und Hehler, Worte, die nie für solche Münder bestimmt waren. Geschändete Liturgien, die ihr jetzt auf der Zunge wie altes Blut liegen.

„Nicht diesmal“, sagt sie heiser, nur für sich, und legt dem Hallenlauschen damit den ersten Stein hin.

Sie atmet langsam ein, bis die Rippen schmerzen, und lässt die alten Worte steigen. Nicht die gemieteten Sprüche ihrer Gassenjahre, sondern die hohe, verbotene Kadenz, die einst nur in Hainen von Fürsten und Eidgöttern erklang. Jeder Laut trägt Speergewicht, jeder Name ein Messer an der Kehle. Mit jedem Silbenbogen schneidet sie hinter sich einen Weg ab, brennt Brücken aus Schatten und Ausflüchten nieder, bis nur noch dies bleibt: ihre nackte Stimme im Grimm der Bäume, ein Ruf, über den sie nie wieder zurückgehen kann.

Der Atem geht ihr rau durch die Kehle, wie über alte Wundränder, als sie ihn zwingt, lang und gleichmäßig zu werden. Tief aus dem Bauch holt sie die Laute herauf, nicht die schmutzigen Marktformeln, die man mit Silberstücken abkaufen konnte, sondern die hohe, verbotene Singweise, die sie einst im Schatten eines Fürstenhains lauschte, kniend, mit Stirn im Moos. Die ersten Silben stolpern fast, dann finden sie ihren alten Tritt; sie schmecken nach Eisen und kaltem Rauch, nach Herbstlaub auf Grabhügeln.

Sie umkreist die Namen nicht, sie umtanzt sie nicht in Gaunerslang und Hintertürbildern, sondern spricht sie klar an: die Wächter des Hains, die stummen Gottheiten der Grenzsteine, die dunklen Hörenden, die einst über Landfrieden und Blutbußen wachten. Jeder Ton fällt schwer auf den Stein, als würde er eingraviert, und in ihrem Hinterkopf zucken Erinnerungen an Meister, die ihr einschärften, solche Formeln nie ohne Herrenauftrag zu rühren.

Mit jeder neu geschlagenen Lautbrücke kappt sie die Fluchtwege hinter sich; es sind Worte, die man nur vorwärts gehen kann, hinein ins Urteil, nie zurück in die feige, bequeme Nacht.

Als sie sich nennt – nicht den falschen Kräutlernamen, nicht die Gassenmasken, sondern den vollen, alten Klang, mit Haus und Fehltritt und der einen Schuld, über die sie nie laut spricht –, zieht sich die Halle zusammen wie eine Lunge vor dem Schrei. Die kohlverdeckten Narben an ihren Schläfen werden zu glühenden Nägeln; ein prickelndes Brennen fährt in Mustern durch die Haut, als würden unsichtbare Finger die einst geschlagenen Zeichen nachfahren und prüfen, ob sie noch taugen. Im Eidsstein zucken die Adern auf, Silberadern schlagen Funken; matte Runen steigen aus der Tiefe, scharf wie frisch geschnittene Kerben. Etwas Kostendes wird genommen, nicht Blut, nicht Atem, sondern der blankgelegte Kern dessen, was sie ist, ohne Ausrede, ohne Titel, ohne Fluchtweg – und der Stein nimmt es an.

Dann kehrt sie den Ritus nach außen, reißt den Blick der Halle von sich los und zwingt ihn auf den Jungen hinter ihr. Mit heiserer Klarheit ruft sie jede Hand, die an ihm zerrt, in den Kreis: den Blutzoll der Bande, die versch(l)ammte Schande der Herren, den Bann des verschwundenen Priesters. Sie flicht sie zu einer einzigen, waghalsigen Frage, an Eichenkrone selbst niedergelegt, ohne Schleier, ohne Ausweg.

Für einen Herzschlag erstarrt alles; selbst das Blätterflüstern verstummt, als hielte der Wald den Atem an. Dann fährt ein Ruck durch den Eidsstein, dumpf wie fernes Donnern im Gestein. Blasses Silberlicht jagt in seinen Adern empor, kriecht die Stufen hinab, springt wie kaltes Feuer zu den rissigen Thronsockeln, den schwarz gewordenen Spiegelteichen, den moosverhangenen Säulen. Wo es streift, flackern für Wimpernschläge Banner in uralter Farbe auf, Schatten von Rüstungen und Hörnerkronen, Gesichter, die nie ganz zu sehen sind und doch urteilen. Die Hallenluft wird dicht, bekommt Gewicht wie nasser Filz. Etwas Großes, Langschlafendes richtet sich auf, nicht gütig und nicht grausam, nur wachsam. Es tastet Sigerhilds Wagnis ab, prüft die Fügung ihrer Worte gegen unvergessene Satzungen – und irgendwo, jenseits dessen, was Augen fassen, öffnet sich der schmale, messerscharfe Pfad, auf dem sie diese Stätte noch lebend verlassen könnten.

Sie senkt das Haupt, nicht als Unterwerfung vor denen aus Fleisch, sondern als Zeichen vor Stein und Hallenluft. Als sie spricht, ist die Stimme heiser vom Rauch längst verloschener Feuer und von Nächten ohne Schlaf, doch sie hält; jedes Wort fällt wie ein Schlag mit einem Runenmesser in frisches Holz.

Zuerst ruft sie den Ring des Jungen, nennt ihn bei der verborgenen, priesterlich geschmiedeten Bezeichnung, nicht bei dem Straßennamen, den die Kinder ihm gaben. Sie zeichnet mit der Zunge die alten Glieder des Bundes nach: Blut über Erz, Name über Namen, Gehorsam gegen Schutz, Fluch gegen Verrat. Bei jedem Glied zuckt das Eisen an Bernulfs Hand, als zöge eine unsichtbare Schmiede die Glut darin hoch; das Leder um sein zu weites Band beginnt zu rauchen, Runenschnüre schwellen, als wollten sie platzen. Der Junge beißt die Zähne so hart zusammen, dass sich die Muskeln in seinen Wangen scharf abzeichnen, doch er weicht keinen Fingerbreit zurück. Das genügt der Halle; sie nimmt seine Standhaftigkeit wie eine ausgestreckte Hand zur Kenntnis.

Dann dreht Sigerhild sich – nicht mit dem Körper, nur mit dem Gesetz, das sie in Worte kleidet – zu dem Bandenhauptmann, der mit verschränkten Armen und kaltem Spott in den Schatten lehnt. Sie zählt nüchtern die Münzen und Messer, die er aus der Hand seines Patrons empfing, nennt den Schwur, der ihn an dessen Willen kettete, nennt auch – leise, aber deutlich – den Tag, an dem er die Kinder unter Bernulf gegen besseres Wissen in diese Kette hineingezogen hat. In ihren Formeln steckt keine Anklage, nur Einordnung: wer wem was schuldet, wer über wem steht, und vor allem, was davon vor diesem Stein Bestand haben kann. Das Silber in den Rissen der Stufen kringelt sich zur Antwort an seiner Stiefelspitze; der Mann flucht heiser, als hätte ihn jemand am Knöchel gepackt.

Zuletzt wendet sie sich, mit der ganzen Härte ihres ehemaligen Amtes, den Unsichtbaren zu: den Häusern hinter den Mantelträgern im Halbdunkel, deren Wappen in schmutzigem Gold an verborgenen Knöpfen glimmen. Sie spricht nicht ihre jetzigen Titel, sondern die alten Hausnamen, wie sie einst in Opferrauch gedrückt und in Eichenholz geschnitten wurden. Sie ruft den Bluteid ihrer Ahnen auf, der ihnen Land und Rang sicherte, „bei Baum und Blut, bei Speer und Stein“. Und sie benennt, langsam, fast mild, die Schande: ein Kind aus ihrem eigenen Samen in einen verborgenen Handel mit einem Waldgott gegeben, um eine Grenzmark zu retten – und nun versucht, dieses lebendige Pfand mit Mördern auszulöschen. Bei diesen Worten knacken unsichtbare Äste über den Häuptern der gedungenen Klingenmänner; Schweiß stößt ihnen aus, obwohl die Halle kalt ist.

Erst als alle Fäden benannt sind, legt sie den letzten Stein: sich selbst. Ohne Umschweife spricht sie ihren vollen Namen ein zweites Mal aus, diesmal nicht als Bittstellerin, sondern als Pfand. Sie bietet ihr Leben und das, was dahinterliegt – den Anteil an den alten Göttern, den sie nie ganz loswurde, die schuldig gewordene Priesterhand – als Bürgenwert dar. Kein Stahl in dieser Halle, sagt sie, soll aus blankem Zorn gezogen werden, keine Klinge in wirklichem Blut enden, ehe nicht jede hier erhobene Forderung vor Eichenkrone genannt, gewendet, beantwortet ist. Kommt es anders, so soll der Bruch zuerst an ihr vollzogen werden: Seele vor Stein, Fleisch vor Kind.

Die Worte hängen schwer im Raum wie erster Frost. Einen Atemzug lang glaubt sie, ihr eigenes Herz bleibe stehen. Dann regt sich das alte Gericht im Gestein; unter ihren Füßen schwingt es dumpf, als sei tief unten ein zweiter, ungeheurer Pulsschlag erwacht, der ihr Angebot prüft und – ohne Gnade, ohne Trost – annimmt.

Die Antwort der Halle kommt nicht als Stimme, sondern als Druck: schwer und kalt wie Flusswasser in der Tiefe. Die Luft sackt, als wäre sie aus Wolle; jeder Atemzug geht nur noch durch Widerstand. Unsichtbare Last legt sich auf Schultern, in Genicke, in Zungenwurzeln. Worte, die eben noch wie Messer gezückt waren, werden stumpf im Mund. Ein hingeworfener Fluch verendet auf halbem Weg zur Lippe, versandet zu einem heiseren Laut. Wer trotzdem spricht, spürt bei jedem tastenden Ausweichen, bei jedem hastig hingeworfenen „Ich habe nie–“ ein Aufflammen hinter den Augen, scharf wie glühende Nadeln. Einer der gedungenen Klingenmänner stolpert rückwärts, presst die Hand an die Stirn, und als er doch noch ein „Lüge“ formt, rinnt ihm dünnes, dunkles Blut aus den Nasenlöchern.

Sie sind nicht die Einzigen. Auch der Bandenhauptmann kneift die Augen zusammen, als hätte ihn jemand unsichtbar geohrfeigt; seine nächsten Worte sind abgehackt, vorsichtig gewogen. Die Mantelträger im Halbdunkel, deren Hände eben noch wie beiläufig an den Schwertknäufen ruhten, zucken, als die Halle ihre feinen Ausflüchte prüft. Ein Assassine, zu jung für so viel kaltes Metall, versucht es mit stummem Trotz – schweigt, aber denkt den Eidbruch im Stillen. Die Antwort kommt sofort: Er geht in die Knie, schnappt nach Luft, keucht heiser, bis er gezwungen ist, laut und hörbar ein „Gebunden… ich bin gebunden“ zu stoßen. Erst dann lässt der Druck in seinem Gesicht nach.

Nach und nach werden Versuche, sich aus Formeln zu winden, seltener. Die Hände sinken von den Griffen; Schultern, die sich zum Sprung hoben, erstarren. Was übrig bleibt, ist ein gepresstes, zähneknirschendes Einlenken: keine Zustimmung aus Einsicht, sondern das erzwungene Anerkennen, dass hier andere Zügel halten als Gold und Furcht. Einer nach dem anderen geben sie es preis – ein raues Nicken, ein murmelndes „So sei es“, ein heiser hervorgewürgtes „Ich höre“ –, bis selbst die Mörder der Häuser, bleich und schweißnass, der Ordnung dieses erzwungenen Vergleichs zustimmen, weil alles andere sie in blutigen Schmerz treiben würde.

Sigerhild spürt, wie der Druck der Halle ansetzt, noch ehe sie den Gedanken vollendet. Ein Knabe, führt sie aus, sei nach altem Recht „halbes Maß“, dürfe Waffen tragen und Botschaften laufen, aber kein Maßlos-Eid tragen, der weder Grenze noch Ende kenne. Was vor der Mündigkeit ohne Maß geschmiedet wurde, müsse hier, vor Stein und Wald, nachgemessen werden. Sie zählt die fehlenden Bedingungen auf: kein festgesetztes Ziel, kein benannter Hüter, kein gerechter Ausweg. Das Silber im Eidsstein antwortet langsam, widerwillig, als müsse es uralte Gewohnheit umschichten; Runenlinien schaben sich um wie Mühlsteine. Bernulf reißt scharf die Luft ein, als sich etwas Unsichtbares an seinem Ring verengt – nicht mehr auf jeden Fehltritt, nur noch auf den einen: Verrat an denen, die sich freiwillig unter seinen Schutz stellen.

Sie besiegelt die neue Klausel nicht mit großem Opfer, sondern mit einem einzigen, nüchternen Tropfen ihres Bluts auf dem Silber im Stein; der Stich an der Daumenkuppe fährt ihr bis ins Herz. Als das Rot den Riss findet, bricht etwas Hörbares. Dem Bandenhauptmann fährt die Stimme weg, rau und gewöhnlich; der kalte Nachhall des aufgezwungenen Befehls ist fort, und seine eigenen Männer zucken zurück, als müssten sie sich plötzlich an längst vergessene Wahl erinnern. Zwischen den Schatten der Mantelträger fährt ein anderer Ruck: Die Mörder der Häuser schnappen nach Luft, als schlüge ihnen eine unsichtbare Hand die alten Bluteide ins Gesicht. Das Wissen, dass der Junge vor ihnen „von ihrem Holz“ ist, fährt wie Frost durch ihre Glieder. Langsam, als wüssten sie selbst nicht recht warum, sinken ihre Klingen; sie treten einen Schritt vom Knaben zurück, so weit, wie der Eid ihrer Ahnen Raum lässt.

Der flüchtige Glanz der Halle erlischt zu blassem Moos und kaltem Stein, als das letzte Wort fällt; nur die gestrafften Eide bleiben, unsichtbare Ketten im Nacken der Zurückbleibenden. Unter ihrer Last bleibt ihnen nichts als stummes Starren, während Sigerhild Bernulf zu sich zieht und ihn auf den Jägerpfad führt, den Eichenkrone ihnen einen Herzschlag lang auftut – jeder Schritt erkauft mit verbrannter Satzung und geopferter Klausel.

Als sie den kalten Schein des Thronkreises im Rücken spürt und der Wald sie wieder zu verschlucken beginnt, zwingt Sigerhild sich, nüchtern zu denken. Kein Triumph, nur Buchführung. Jeder neue Strang, den sie eben gezogen hat, muss vermessen werden, ehe er sie selbst würgt.

Bernulfs verengter Todesfluch zuerst: kein allumspannendes Netz mehr, sondern ein einziger, grell markierter Strick. Verrat an den Freiwilligen – nur daran hängt nun der Schlag des Eides. Sie zeichnet sich innerlich eine Grenze: Wie weit kann der Junge Druck ausüben, Drohungen schleudern, Kompromisse brechen, ohne dass der Fluch nach ihm greift? Sie setzt unsichtbare Marken an Wegbiegungen der kommenden Tage – hier darf er hart verhandeln, dort muss er Schutz gewähren, ob er will oder nicht.

Dann die Hausmörder. Ihr angehaltenes Schwert ist kein Friede, nur ein angezogener Zügel. Der Eid ihrer Ahnen bindet sie, den „ihres Holzes“ nicht eigenmächtig zu fällen. Aber wie viel Spielraum bleibt für Unfälle, für „Verluste im Gedränge“, für Messer, die aus fremder Hand kommen? In Gedanken legt Sigerhild den Kreis, in dem Bernulf sich von ihnen fernhalten muss, und den schmaleren, in dem er sie vielleicht zwingen kann, für ihn zu stehen. Ihre Hauszeichen, ihre Rangfolgen, die Formeln, die sie eben wachgerufen hat – alles fügt sich zu einer stillen Karte aus unsichtbaren Linien.

Zuletzt der Hauptmann. Sein erloschener Befehlston, die leere Stelle, wo der aufgezwungene Schwur in ihm saß: ein Bruch, aber kein Erlass all seiner Bande. Womit hält ihn sein Patron jetzt? Mit Silber, mit Furcht, mit alten Schulden? Sie tastet die frisch gezogene Kante nach: Er darf den Jungen nicht mehr im Namen des fremden Gottes fordern, doch im Namen bloßer Gier bleibt ihm manches offen. Wieder markiert sie Wege: Straßen, auf denen seine Leute ihn straflos jagen könnten, und Pfade, auf denen jede Hand gegen Bernulf unweigerlich an eigenem Eidfleisch schabt.

So wächst in ihr, Schritt um Schritt, ein stiller Plan der Bewegungen: keine Karte aus Wegen und Dörfern, sondern aus Soll und Darf, aus Muss und Sterben. Jede Grenze, die sie erkennt, kann sie umlenken, dehnen, mit neuen Worten spicken. Jede, die sie übersieht, wird ihnen Knochen kosten. Hinter ihnen hallt noch immer der stumme Blick der Halle nach; vor ihnen liegt nur der schmale Grat zwischen den unsichtbaren Ketten, den sie nun zu gehen haben.

Auf dem sich windenden Jägerpfad bewegt sie sich fast lautlos, während ihr Mund stumme Silben formt. In Gedanken legt sie die eben gesprochenen Wald-Eidformeln noch einmal frei, wie man einen Verband löst, um die Wunde darunter zu prüfen. Wo haben die Worte noch Griff in der Welt, wo sind sie stumpf geworden, vom Hall der Eichenkrone aufgezehrt? Sie tastet die Ränder der gesprochenen Klauseln ab: jenes „sofern“, das sie in den Fluch des Jungen geschoben hat; jenes „nicht aus eigener Hand“, das die Hausmörder zügelt; jenes „nur im Namen des fremden Gottes“, das den Anspruch des Patrons bricht.

Jede Formel wird in ihr zum tastenden Finger an einem unverheilten Bruch. Die alten Präzedenzfälle steigen auf wie Schatten früher Verhandlungen – Blutgeld in Grenzdörfern, Schwüre betrunkener Söldner, der eine Fürst, der glaubte, er könne die Waldgötter mit juristischen Spitzfindigkeiten überlisten. Sie horcht in das Nachklingen der Halle zurück, ob irgendwo Widerspruch lauert: ein ziehender Schmerz im Wortgefüge, ein stilles Nein der Runen. Was keine Antwort mehr gibt, gehört jetzt dem Ort; was noch gehorcht, ist ihr verbliebenes Werkzeug – und Preis zugleich.

Bernulf stolpert, der Atem rau, und klammert die Finger um den noch heißen Eisenreif, als wollte er ihn von seinem Arm reißen. Sigerhild fängt seine Hand ab, legt ihre eigene darum, zwingt seine Finger, den Ring nicht zu packen, sondern zu tasten. „Nicht dagegenhalten“, murmelt sie, „entlang fühlen.“ Mit der freien Hand zeichnet sie ihm ein schlichtes Gegenritual in die Handfläche – dieselben Muster, die sie einst rauen Söldnern beibrachte, wenn deren Kauf‑Eide zu stramm saßen. Jetzt biegt sie sie um, macht daraus eine Schule: hier das leise Summen, wo der Eid nur warnt; dort der stechende Schmerz, wo er beißen würde. In jedem Druckwechsel lässt sie ihn spüren, bis wohin er drohen, brechen, neu formen darf, ohne dass der Fluch aufflammt und nach seinem Herz greift.

Die Nacht sinkt dicht unter das Dach des Waldes, und an ihrem kleinen, rauchlosen Lager schabt Sigerhild mit dem Messer feine Kerben in eine abgesplitterte Schuppe des Eidessteins, die ihren Stiefelstaub grau gefärbt hat. In das bröselige Gestein ritzt sie blasse Runen, zeichnet mit Atem und Blut einen Notwall, der die Strenge der Halle nachahmt. Eichenkrones Regeln kehrt sie nach außen, biegt sie um zu einem zerbrechlichen Asyl: Jeder Hinterhalt, jede heimliche Preisgabe, jede Drohung ohne förmliche Herausforderung soll sich dort, wo ein Verfolger sein eigenes Wort verrät, krümmend gegen ihn selbst legen, wie ein schartiges Messer, das in der falschen Hand zurückspringt.

Im ersten Grauen des Morgens, als ferne Hörner stoßweise durch den Wald blasen und gedämpfte Rufe wie unter feuchtem Tuch herüberdringen, rühren sich die neu gezähmten Schwüre schon in der Welt. Aber Sigerhild und Bernulf gehen anders als zuvor: nicht mehr nur auf der Flucht, sondern tastend wie Hüter eines unsichtbaren Gesetzeswerks, entschlossen, die letzte Schranke nicht mit nacktem Trotz, sondern mit der präzisen Kenntnis jeder nun drehbaren Zusage zu durchschneiden.

Am Saum des Waldes ist ihre letzte Schranke kein Wall aus Lanzen, sondern ein wirres Gestrüpp aus einander widersprechenden Schwüren. Unter den niedrigen Ästen stauen sich Menschen und Absichten: inquisitorische Tempelbrüder in grauen Mänteln, ihre Blicke kalt und gierig; Schmuggler mit feuchten Augenwinkeln und Händen, die zu oft zählen, was ihnen nicht gehört; dahinter ein aufgescheuchter Haufen Stadtwachen und Milizionäre, deren Wappen schon vom Waldschatten verschluckt sind. Alle halten, alle werden gehalten – von Worten, die sich an ihren Zungen zu Schlingen gedreht haben.

Sigerhild spürt es, bevor sie die einzelnen Gesichter erkennt: ein Zerren im Mark, ein leises Knacken, als rieben unsichtbare Seile aneinander. Gelöbnisse, Kaufbriefe, Altarschwüre, Bürgerrechte – alles hat einen Funken von Eichenkrone eingesogen, seit sie die Halle angerufen hat. Jetzt zieht jedes an jedem, wie Hunde an zu eng geknoteten Leinen. Ein inquisitorischer Bruder, dessen Eid ihn zwingt, jede Ketzerei dem Feuer zu überantworten, steht Schulter an Schulter mit einem Wachhauptmann, der bei seinem Hausgott geschworen hat, kein Blut ohne ordentlichen Spruch zu vergießen. Der Schmuggleranführer hat sich dem Tempel verschrieben, gegen Gnade die „Saat des Frevels im Unterholz“ auszulöschen – und zugleich seinen Leuten ewige Verschwiegenheit und Schutz versprochen. Ein junger Milizionär, kaum älter als Bernulf, hat seiner Mutter gelobt, heimzukehren, „ohne falsches Blut an der Hand“.

Bernulfs Ring liegt schwer und heiß auf seiner Haut; er fühlt, wie die fremden Eide um seinen eigenen kreisen, wie Wölfe, die den Geruch eines höheren Rudelführers wittern. Ein falsches Wort, denkt er, und sie reißen sich gegenseitig die Kehlen auf. Ein einziger Befehl, und irgendein Gott, alt oder neu, nimmt ihn wörtlich.

Die Luft ist dicht wie vor einem Gewitter, doch der Donner steckt in Kehlen statt in Wolken. Stimmen überschlagen sich halblaut, Drohungen bleiben halbfertig hängen, denn jeder spürt dumpf, dass der Wald lauscht – und dass hier draußen ein unbedachter Fluch nicht nur den Feind, sondern den Sprecher selbst verzehren könnte.

Sigerhild tritt aus dem Schatten des Unterholzes, als beträte sie wieder den Kreis der Throne. Der graue Mantel hängt schlicht an ihr, doch in der Haltung steckt unverkennbar der Zuschnitt einer Priesterin. Sie hebt die leere Hand, als halte sie eine unsichtbare Schale, und ihre Stimme schneidet durch das Gemurmel, nicht laut, aber mit der Schärfe eines Messers, das an kaltem Stein gezogen wurde.

Sie beginnt, keine Predigt zu halten, sondern zu zählen. Einen nach dem andern ruft sie beim Namen oder Rang: den Bruder des Tempels mit seinem Feuerseid, den Hauptmann mit seiner Pflicht zum ordentlichen Spruch, den Schmuggler mit der doppelten Verschreibung – an Altar und Bande –, den jungen Milizionär mit dem Versprechen an die Mutter. Was im Dunkel ihrer Geschäfte gemurmelt wurde, spricht sie nun im Halbschatten des Waldes aus, legt jede Bindung offen wie eine alte Wunde und nennt, was noch fest ist, was längst irre geworden und was nach dem eigenen Recht ihrer Götter umgewandelt werden darf.

Sie spricht, als verlese sie ein uraltes Gesetzbuch, und mit jedem benannten Schwur spannen sich Gesichter an, Hände fahren von Heften und Knäufen. Wo eben noch Blutdurst in den Augen brannte, weicht er einem anderen Hunger: zu wissen, wie ihre eigenen Worte sie hier binden – und ob noch ein freier Schritt übrig bleibt.

Bernulf spürt, wie aller Blick an Sigerhild klebt – und reißt ihn an sich. Er hebt den Arm mit dem zu großen Eisenreif, so dass das trübe Morgenlicht auf den Runencord fällt, und seine Stimme bricht nicht, als er sie erhebt, nur die Jungen zittern im Ton.

„Bei diesem Ring,“ sagt er, „verlange ich Schutz für alle, die unter ihm gedient haben und hier die Waffen senken.“ Kein Flehen, eine Forderung, mit der trockenen Schärfe eines Kontraktes. Die Worte fahren wie Haken in die Luft. Der Ring glüht dumpf auf, Bernulf beißt die Zähne zusammen, als das Omen ihn trifft: Die enge, neue Form seines Todesfluchs schnappt zu, dreht sich – nicht gegen ihn, sondern gegen jeden, der seine Leute wider dieses Wort anrührt.

Unsichtbar verschiebt sich ein Gewicht im Geflecht der Schwüre. Die Hausgötter der Adligen, die Tempelheiligen der Inquisitoren, die namenlosen Geister der Schmugglerbande – alle haben Anteil an irgendeiner Zusage, die nun quer zu Bernulfs Anspruch liegt. Wer seinen Kindern hier ein Haar krümmt, ruft das Messer der eigenen Gottheit an, gegen sich selbst geführt.

Ein älterer Schmuggler flucht heiser und verstummt sofort, als ihm Blut aus der Nase läuft. Irgendwo in der Reihe der Tempelbrüder knackt ein Rosenkranz, als wäre er aus Eis. Der Wald schweigt noch tiefer, lauschend, wie ein Gerichtshof, der eine neue Klage angenommen hat.

Unter dem Druck ihrer eigenen, von Sigerhild entblößten Worte knickt zuerst der inquisitorische Bruder ein: mit trockenem Mund erklärt er, der Fall gehöre vor ein städtisches Rechtsgremium, nicht ins reinigende Feuer. Die Schmugglerführer wittern einen Ausweg und nehmen knirschend einen Gnadenbrief gegen Aussage an. Der Hauptmann schließlich kommandiert seine Leute um – von Jägern eines „Waldkults“ zu einer knurrenden Eskorte, die Sigerhild und Bernulf als streitbare, doch rechtens auftretende Bittsteller nach Waldheim geleitet.

Beim Durchschreiten des Tores prallt ihnen die Stadt wie ein anderer Weltkreis entgegen: Marktschreie, Glockengeläut, schnarrende Stadtschreiber, das Klirren von Waagen und Ketten. Der Waldschweigen fällt von ihnen ab wie eine nasse Decke; an seine Stelle tritt der lärmende Atem der Menge – Beweis, dass ihr Gang durch Eichenkrone nun, vorläufig, zu weltlichem Recht geworden ist.

Die Kunde von ihrem Auftauchen aus Eichenkrone ist schneller als ihr Schritt. Noch ehe sie die erste Gasse hinab sind, haben Marktweiber sie schon gesehen, noch ehe sie sie erblickten; ein Bursche mit Meßlatte schwört, er habe „den Waldfluch selbst“ durch das Tor schreiten sehen, und ein bleicher Schreiber flüstert, eine inquisitorische Abteilung sei mitsamt einem ganzen Schmugglerzug aus dem Schattenwald entlassen worden, „unter merkwürdigen Bedingungen“.

Zwischen den Buden wächst aus Raunen ein Gestrüpp von Geschichten. Einer behauptet, die Frau mit der rußgeschwärzten Kapuze habe den Hauptmann gezwungen, seinen eigenen Gott anzurufen – gegen sich. Ein anderer, sie sei eine abgesetzte Tempelmagd, von Waldgeistern verschont, um Verrat zu üben. Kinder rennen ihnen voraus und hinterdrein, schreien „Eichenkronen-Leute!“, als sei es ein Schimpfwort und ein Wunder zugleich.

Bettler, die die Vorhalle des Stadttores kaum je verlassen, wissen plötzlich genau, wie tief drinnen der Wald sei und wie schwarz die Hallen der alten Götter. Jeder von ihnen will erster Zeuge sein, erster Verkäufer seiner Version: an die Tempelbrüder, an die Stadtmiliz, an die Schreiber der Ratsherren. Aus scheuem Staunen wird laute Spekulation, der Klang von Münzen klirrt schon in der Zukunft ihrer Worte.

Zwischen den Krämern ringen kleinste Amtsträger um Deutungshoheit. Ein Torwächter zitiert halb gelernte Rechtsformeln, um zu begründen, warum das Geleit des Hauptmanns nichts bedeute – außer natürlich, daß man später vielleicht an ihm vorbeikommen müsse, wolle man mit der „Waldpriesterin“ sprechen. Ein gehobener Stadtschreiber, Tintenflecke an den Fingern, kritzelt hastig in sein Heft und fragt lauter, als nötig, ob jemand „den Knaben mit dem Eisenreif“ genauer gesehen habe: Wappen, Worte, Wunder.

Die Luft über dem Pflaster füllt sich mit dem Summen von Namen, Vermutungen, Drohungen in Konditionalform. Noch ehe Sigerhild und Bernulf die erste Kreuzung erreichen, gehört ihr Gang durch Eichenkrone nicht mehr ihnen allein, sondern der gefräßigen Zunge der Stadt.

Bernulf wächst mit jedem Schritt in die vertraute Maske hinein. Der Junge, der im Schatten der Oath‑Steine gezittert hat, weicht dem Boss mit dem zu schweren Eisenreif. Ein scharfes Nicken hier, ein kaum merkliches Handzeichen dort – binnen Herzschlägen lösen sich aus der lärmenden Menge Gesichter, die nur ihm gehören. Ein barfüßiger Läufer verschwindet, um nachzusehen, ob der alte Hehler noch seine Ecke in der Gerbergasse hält; ein Mädchen mit zerlumpter Schürze taucht unter Marktständen hindurch, um „zufällig“ an den Spelunken vorbeizukommen, wo rivalisierende Banden verkehren. Bernulfs Stimme bleibt flach, fast gelangweilt, doch in den kurzen, rauen Worten liegen Haftung und Drohung: wer jetzt redet, bleibt im Schutz seines Rings; wer schweigt, wenn er ruft, verliert ihn.

Sigerhild hält sich einen halben Schritt hinter ihm, als sei sie nur seine gemietete Schreiberin. Wo der Lärm dichter wird, schlägt sie den Mantel zurück, zeigt das wohlbestückte Ledermäppchen an ihrem Gürtel: Federn, kleine Phiolen, ein Reibeisen mit dunklem Pigment. „Salben gegen Waldhusten, Tinte, die nicht verläuft, auch bei Nässe“, murmelt sie in den Tonlagen der Handwerkerinnen. Für ein Eckchen Lagerplatz in einem überfüllten Hinterhof schreibt sie gegen den Ruß einer Feuerstelle einen Bittbrief an einen Ratsschreiber; gegen ein Stück Brot richtet sie eine alte Ahneninschrift auf einem verwitterten Türsturz.

Zwischen jedem Handel stellt sie beiläufige Fragen. „Wer hat neuerdings die Zehntpacht für den Nordmarkt? Ein neuer Name unter den Ratsherren?“ – „Seit wann patrouillieren Tempelbrüder in Zivil an den Hafenstegen?“ – „Diese Schläger da drüben, gehören sie noch zu Meister Hauer, oder zahlt ein anderer ihre Messer?“ Die Antworten kommen im Halbschatten von Haustoren, im Flüstern über Kupferstücke hinweg: ein Wappen mit einem entwurzelten Baum, das plötzlich an mehreren Türen prangt; ein Inquisitor, der nicht in der Herberge der Brüder logiert, sondern in einem Privathaus eines verarmten Edelherrn; Gerede von einer Bande, die „vom Wald gezeichnet“ zurückgekehrt sei und seitdem unantastbar scheine.

Während Bernulf Fäden alter Loyalitäten straffer zieht und neue Knoten legt, näht Sigerhild ihrerseits ein Netz aus Namen, Gassen und Gerüchen. Hinter der Maske der Kräuterkundigen kartiert sie Schritt um Schritt die unsichtbare Stadt: Linien zwischen verarmtem Adel und Tempel, zwischen Gassenhäuptlingen und wortreichen Schreibern. In den abgewetzten Gesichtern, die ihr misstrauisch, dann gierig ins Auge sehen, hört sie schon das fernere Raunen derer, die ihnen nachspüren werden.

Bald schlagen die Tempelglocken anders: keine Stunde, kein Fest – sondern dreimal kurz, einmal lang, das alte Zeichen für Verbote. Ein Herold auf dem Marktplatz verliest mit näselnder Stimme eine neue Ordnung „über heillose Waldreliquien, unerlaubte Runenschriften und weibische Laienriten“. Ein zweiter deklamiert an der Gerichtstreppe von Steckbriefen gegen „unlizenzierte Schwurpriester“ und kündigt an, daß jedes Waldstück nahe der Stadt nun „unter besonderer Beobachtung“ der Brüder stehe.

Zwischen den Formeln hört Sigerhild das Klicken der Schlinge. In den Siegeln der Aushänge blitzen ihr vertraute Zeichen entgegen: ein entwurzelter Baum im Wappenschild, das stilisierte Wolfsmaul eines bekannten Inquisitors, Randzeichen, wie sie nur Tempeljuristen setzen, wenn sie bereits Namen in der Hinterhand haben. Ihre Gegner treten aus den Schatten der Gassen in die Schreibstuben der Stadt.

In einer verräucherten Hinterstube über einer lärmenden Schenke breiten sie ihr Beutegut an Gerüchten aus wie Diebesware: auf das fleckige Brett malt Sigerhild mit Ruß und Bier die verschobenen Grenzen. Banden, die Bernulfs Läufer abwerben wollen; ein zitternder Gerichtsschreiber mit heimlichem Zugriff auf Siegel; ein Kleinadelwappen, das in Drohflüstern zu oft fällt, um Zufall zu sein.

Als die erste Dämmerung die Rauchschwaden über den Dächern violett färbt und die Läden krachend vor einem Waldwind geschlossen werden, der hier nur noch als fernes Raunen ankommt, haben Sigerhild und Bernulf das rohe Gewisper in einen groben Plan gepreßt: welche Herren man reizen, welche man beschwichtigen muß, wie man öffentliches Gerede zum Schild krümmt statt zum Galgenstrick.

In den ersten, schütternden Augenblicken nach dem Verstummen der Formeln ist Überleben ein fernes, beinahe theoretisches Wort. Sigerhild steht reglos im Kreis des Steins, die Knie weich, den Rücken dennoch gerade wie am Altar. Eisen schmeckt sie, dumpf und kalt, weit hinten im Rachen, wo die Kraft der Halle an allem kratzte, was sie verschwiegen hat. Keine ausgesprochene Lüge, nein – aber halbgedachte Fluchten, Ausflüchte, die sie nie bis zur Zunge ließ. Selbst das hat Eichenkrone gekostet und verbucht.

Die Luft ist schwer wie nach Gewitter. Jeder Atemzug schmerzt, als sei Rauch darin, den nur sie bemerkt. Ihre Ohren surren vom Nachhall der alten Namen, die sie angerufen hat; im flackernden Restglanz der Silberadern im Stein sieht sie kurz Gesichter, die längst zu Erde wurden. Priester, Räuberkönige, eidversessene Recken. Keiner hilft. Keiner widerspricht.

Neben ihr hockt Bernulf halb auf einem Knie, halb im Staub. Er merkt es erst, als die Stille dick geworden ist wie Wachs: daß er noch lebt. Er starrt auf seine Hand, auf den klobigen Eisenreif, der wie ein fremdes Glied über seinen Knöcheln sitzt. Langsam, als traue er den eigenen Fingern nicht, krümmt und streckt er sie. Die Gelenke knacken. Die Haut darunter ist rot eingeschnitten, aber nicht verbrannt, nicht schwarz. Sein Puls hämmert darunter, wild, ungehorsam lebendig.

„Er… schlägt noch“, stößt er tonlos hervor, mehr zu sich als zu ihr, als müsse er dem Ring die Tatsache mitteilen. Ein Zittern läuft von der Schulter bis in die Fingerspitzen, läßt den Eisenreif leicht klirren.

Sigerhild wagt erst dann, die Lider zu heben. Ein Teil von ihr hatte erwartet, im Dunkel einer anderen Halle zu erwachen – oder gar nicht mehr. Stattdessen ist da nur das blasse, bläuliche Feuer, das an den morschen Säulen klebt, und der Oathstein, dessen Runen träge zurück in Stein erstarren.

Sie bewegt die Zunge im Mund, prüft die Worte, die noch darauf liegen könnten wie Dornen. Nichts brennt. Das bedeutet nicht, daß sie sicher ist. Nur, daß das Gericht für den Augenblick abgeschlossen ist.

„Steh auf“, flüstert sie, immer noch heiser von den Formeln, die jeder Atemzug gekostet hat. „Solang dein Herz unter dem Eisen geht, gehört der Tod dir nicht.“

Bernulf schaut zu ihr, die Augen zu weit in dem schmalen Gesicht, und in diesem Blick liegt keine Bosshärte, nur nacktes, fassungsloses Dasein. Dann stemmt er sich hoch, stolpert einmal, fängt sich an ihrem Ärmel. Gemeinsam richten sie sich auf im Erwartungsschweigen der Halle, die ihr Urteil gefällt, aber noch nicht vergessen hat.

Die Männer, die eben noch mit gezogenem Stahl und blankem Mord im Blick in den Kreis getreten waren, stehen nun wie angekettert. Einer der Stadtstrolche holt tief Luft, setzt zum Fluch an – im nächsten Atemzug läuft ihm Blut aus Nase und Augen, dunkel auf den Bart tropfend. Er stolpert zurück, würgt. Ein anderer, in des Patrons Farben, versucht, die Drohgebärde seines Herrn nachzusprechen; das letzte Wort erstickt in einem gepreßten Keuchen, als hätte unsichtbare Hand ihm die Zunge an den Gaumen genagelt.

Sigerhild sieht, wie es ihnen dämmert. Wie Finger ungläubig an die eisenbeschlagenen Brustriemen fahren, hinter denen ihre eigenen Eide liegen; wie sie begreifen, daß nicht sie, sondern ihre Worte jetzt am härtesten gefesselt sind.

Sie nutzt genau diesen Augenblick des schwankenden Stolzes. Ruhig, ohne jeden Schmuck, spricht sie die Bedingungen aus, die Eichenkrone ihr zugestanden hat: daß Bernulf leben soll, solange er die enge Spur seines Eides hält; daß die Männer des Patrons heimkehren dürfen, sofern sie heute kein Blut von Kind noch Priester vergießen; daß des Herren Namen rein bleibt – auf dem Papier, nicht im Gedächtnis.

Sie nennt jeden Titel, jede Hauszeile, jedes Schlupfwort. Sie bindet ihre eigene Haut mit hinein als Pfand, wissend, daß die Halle gierig jeden Laut mitschreibt. Bernulf atmet neben ihr, stoßweise, aber er atmet. Und die Männer, die ihn töten wollten, wagen nicht einmal mehr zu drohen, ohne daß ihnen das eigene Blut den Mund füllt.

Bernulf braucht einen Atemzug zu lang, ehe er begreift, daß die enge Schlinge sich gelockert hat – nicht gelöst, aber verschiebbar. Dann hebt er, beinahe trotzig, das Kinn.

„Lauf“, sagt er leise zu einem der eigenen Jungen am Rand des Kreises, „zurück zum unteren Tor. Du hältst heute die Hand von jedem, der meinen Namen flucht, und du läßt sie nicht zur Klinge greifen.“

Das Wort „mußt“ liegt ihm auf der Zunge wie Gift, doch als der Junge zuckt – und gehorcht –, spürt Bernulf nur das vertraute, beißende Ziehen im Ring. Kein Würgen in der Kehle, keinen dumpfen Sog Richtung Tod.

Er geht weiter, probiert die Schneide aus. Ein kurzer Blick zu den gedungenen Häschern.

„Ihr da. Ihr werdet heimgehen – langsam. Ohne Blut. Und ihr werdet erzählen, daß wir noch stehen.“

Die Männer verrotten sichtbar in ihrem eigenen Schweigen, fühlen den Druck ihres Haus-Eides, der die von ihm gesprochenen Bedingungen übernimmt. Bernulf wartet, Herz im Hals. Der Ring glüht heiß, schmerzt – aber er bleibt. Kein schwarzer Stich ins Mark, kein Kreisel von Übelkeit, der ihn zu Boden treibt.

Ein Zittern läuft ihm über den Rücken; seine Schultern, jahrelang hochgezogen wie unter unsichtbarem Fallbeil, sinken um eine Fingerbreit. Nicht frei, nie frei – doch der Stahl hängt nun höher. Langsam, mißtrauisch, richtet er sich in jener Haltung, die eher an einen jungen Herrn am Hof erinnert als an einen Straßenkönig im Dreck.

Der letzte Aufschrei des ungebrochenen Widerstands kommt spät: ein Ruck, ein halbgezogener Dolch, ein durch die Zähne gezischtes Rachegelübde. Doch ehe Sigerhild Atem findet, antwortet die Halle. Der Stahl wird bleiern, der Arm des Mannes zuckt krampfhaft, Blut tritt ihm aus den Augenwinkeln. Die Drohung verkrustet, wird zu einem förmlichen Fehdeansinnen, dessen Worte sich schwer wie Blei an die Pfeiler heften – ein sauberer, ritueller Streit, den keiner der Anwesenden zu rufen wagt, weil sie alle spüren, daß in dieser Nacht nur derjenige überlebt, der Bedingungen erträgt statt Blutgier.

Erst als die Gegner abziehen, an ihren eigenen Worten an die Schwelle gekettet, läßt Sigerhild sich gegen einen mooskalten Pfeiler sinken, flüstert einen heiseren Dank an Götter, denen sie weder traut noch ganz entkommt. Bernulf tritt so nahe, daß ihr Schatten ihn mitbirgt. Ohne einander recht anzusehen, einigen sie sich – nüchtern, fast geschäftlich –, daß wer unter Eichenkrones Blick überlebt, vor der Dämmerung fort muß, ehe die Halle ihre Bedingungen neu faßt und jeden Laut von heute Nacht in eine andere Schlinge dreht.


Leaving the Roots Behind

Als sie aus dem rissigen Thronring in die äußeren Eichenarkaden treten, zwingt Sigerhild ihren Leib in den gemessenen Gang einer Priesterin, nicht in das hetzende Huschen der Gejagten, nach dem ihre Nerven schreien. Der breite Saum ihres dunklen Mantels streift moosbewachsene Wurzeln; jedes Mal, wenn sich ihre Ferse vom Boden löst, zuckt ein feines Zerren durch die Sehnen hinauf, als würden haarfeine Wurzeln ihre Stiefel halten wollen, bittend oder besitzergreifend.

Sie atmet flach, den Mund trocken vom Metallgeschmack der Oathhalle. Ihre Finger, noch rußverschmiert von den Zeichen, die sie am Stein gezogen hat, tasten unbewusst nach dem alten Gebetsrhythmus. Erst beim dritten Schritt findet sie Worte, die nicht ganz von ihr sind.

„Heilig Hall, weich in Wald,
Eid gestillt, Blut gezählt,
Pfad sei frei, Bann sei mild…“

Die Flüsterformel stolpert, ein Dorfvers auf den Lippen einer gefallenen Stadtpriesterin. Doch kaum legt sie die Silben in die schwere Luft, lockert sich etwas im Unsichtbaren. Das Ziehen in ihren Beinen lässt nach, als hätte der Hall die alte Dorfliturgie erkannt, bescheiden, klein, aber gültig. Ein dumpfes Nachhallen läuft an den lebenden Säulen entlang, kaum mehr als ein Zittern der Rinde.

Hinter ihr setzt Bernulf die Schritte ungeduldig enger, doch auch er verlangsamt, als der Widerstand sich löst. „Was sagst du da?“, zischt er, leise, als fürchte er, lauter Klang könnte die Wurzeln wieder wachrufen.

„Schlusswort“, murmelt sie. „Früher, wenn wir den Hof und den Hain den Göttern wieder überließen.“ Sie wagt nicht zurückzusehen, weiß aber, dass hinter ihnen die Steinplätze schon blasser werden, als zöge ein Nebel aus der Rinde selbst.

„Hilft das?“ Seine Stimme ringt mit Spott und Hoffnung, kommt am Ende irgendwo dazwischen zur Ruhe.

Sie prüft den Druck in ihren Knien, das Gewicht im Kreuz. „Es… verhandelt“, sagt sie. „Der Hall mag alte Formen. Selbst die armen.“ Ein brotloses Dorfgebet, und doch reicht es, die Finger des Ortes aus ihrem Fleisch zu lösen. Der Gedanke schmerzt sie: Wie oft hat sie ähnliche Formeln benutzt, um Leute an einen Altar zu binden statt zu entlassen?

Ein kalter Stich von Schuld schiebt sich unter ihre Rippen. Sie legt eine Hand flüchtig auf das Messer an ihrem Gürtel – nicht aus Kampfeslust, sondern um sich daran zu erinnern, dass sie es diesmal nicht als Opferwerkzeug benutzt hat.

„Sprich nichts Unbedachtes mehr“, fügt sie hinzu, den Blick auf den dunklen Tunnel der Äste gerichtet. „Jedes Wort hängt hier nach. Selbst jetzt noch.“

Bernulf schnaubt leise, doch seine nächsten Schritte sind schwerer, bedachter, als trüge er nicht nur seinen eigenen Schatten, sondern den Nachhall des Steins mit hinaus. In ihrem Nacken kribbelt es, als lausche etwas Unsichtbares den Versen nach, die sie zurückgelassen haben – prüfend, abwägend, ob es sie wirklich ziehen lässt.

Die lichten Gänge aus bleichem Stein und verflochtenen Zweigen verlieren mit jedem Dutzendschritt an Schärfe, ihre feyhafte Ordnung zerfließt in dichteres Stammgewirr, wirres Wurzelwerk, Farn und Dorn. Doch das Gefühl, unter Blicken zu gehen, bricht nicht ab; es zieht sich nur zurück, lauert jetzt im Augenwinkel, wie ein Schwur, an den man nicht mehr denken will und der doch mit jedem Atemzug mitgehört.

Bernulf bleibt einmal an einer unter dem Laub verborgenen Wurzel hängen und fährt, schneller als sein Verstand, mit einem derben Fluch heraus. Die Blätter über ihnen antworten mit einem kreisenden Raunen, als riefe ein unsichtbarer Wind im Ring um sie an. Beide erstarren, der Atem stockt; selbst das ferne Tropfen irgendwo im Gehölz scheint zu warten.

Sigerhild zählt in ihrem Kopf die Herzschläge einer Opferpause, bis der Junge, blass um den Mund, knurrig nachgibt. „Den… die noch wachen hier, sei’s gemeldet: kein Trotz gemeint.“ Die Worte kommen ungelenk, aber deutlich geformt, beinahe liturgisch. Erst dann gleitet das Rauschen der Blätter wieder auseinander, verliert seine Richtung, wird zu jenem ziellosen Waldflüstern, das nur Menschenohren für Geräusch halten. Bernulf wirft ihr einen schrägen Blick zu, als wolle er fragen, ob nun auch seine Flüche Eidkraft tragen. Sigerhild schweigt, doch innerlich merkt sie sich: Auch draußen, fern vom Stein, hört der Hall noch mit – und zwingt den Jungen, seine Zunge wie einen Dolch in der Scheide zu tragen, sorgfältig, nie achtlos gezogen.

Die Pfade, die sie zu kennen glaubten – ein vorspringender Stein wie ein ausgeschlagener Zahn, eine blitzgespaltene Eiche, deren nackter Riss wie ein Finger zum inneren Hof gewiesen hatte – beginnen sich vor ihren Augen zu verziehen. Winkel runden sich, Kanten sacken ab, die geäderte Borke zieht sich glatt, als legte jemand behutsam eine zweite Haut darüber. Wenn sie den Kopf wenden, um ihren Weg zu prüfen, stehen an Stelle der Merkzeichen nur gewöhnliche Stämme, ein gleichförmiges Wogen von Moos und Farn.

Bernulf probiert es trotzig aus: Mit einem raschen, geübten Stich ritzt er trotz Sigerhilds scharfem Zischen eine Kerbe ins Holz. Der Baum blutet langsam Harz in der Farbe alten Metes, dick und bernsteintrüb, dann zieht sich die Rinde unter ihren Blicken zusammen, schließt sich wie eine geheilte Wunde. Kein Schatten bleibt, kein heller Strich, nichts, woran ein Mensch die Richtung festmachen könnte. Nur im Innern des Holzes, so meint Sigerhild einen Augenblick zu spüren, tastet etwas kurz nach der Berührung des Messers, erkennt Eisen, Kindshand, Hallhauch – und lässt sie dann, vorerst, ohne Zeichen weiterziehen.

Ihre vereinzelten Zurufe dünnen sich zu bloßen Notnamen aus – „Ast tief“, „Morast vor“, „horch“ –, doch jeder Warnruf kommt unwillkürlich gesäumt von der Kadenz von Eiden: angerufene Namen, genannte Bedingung, angedeutete Folge. Wenn Sigerhild schließlich sagt: „Bei Hall und Hain, ich bring dich an den letzten Bannstein, ehe ich ruhe“, rollen die Worte in der alten dreifachen Form von ihrer Zunge, mit Anrufung, Zusage, Sühnebild. Kälte fährt ihr über den Nacken, als hätte unsichtbare Handschrift sich in ihre Atemwolke gelegt. Bernulf, der an ihrem Rücken geht, hebt kurz den Blick, fängt ihren im Seitenprofil ein, erkennt den Schnitt des Versprechens wie den Schliff einer Klinge – dreigeteilt, bindend, ohne Schlupfwort. Er nickt nur knapp, verschließt den Mund, als fürchte er, ein loses Wort könnte das frisch geschmiedete Gleichmaß sprengen und den Hall veranlassen, sie umzukehren, um den Eid dort zu vollenden, wo er eigentlich hingehört.

Nach und nach lichten sich die Stämme, das Unterholz bäumt sich dichter auf, vereinzeltes Vogelrufen tastet sich wie zaghafte Finger in die gedämpfte Stille zurück – ein schiefer, doch unverkennbarer Hinweis, dass der tiefste Glanz des Hallenbanns hinter ihnen bleibt. Mit jedem Atemzug fällt etwas von der bleiernen Schwere aus Knochen und Sehnen, bis ihr Schritt wieder eigen klingt, nicht mehr wie ausgeliehen aus einem älteren Zug von Eidträgern. Keine Grenzrunen, kein letzter Pfahl, kein Tor markiert den Übergang; nur ein fast gleichzeitiges, stummes Aufmerken in beiden. Sigerhild weiß plötzlich mit derselben trockenen Gewissheit wie bei einem gesprochenen Rechtsspruch, dass sie, kehrten sie jetzt um, nichts als gewöhnliche Schwarzwaldschatten und wirre Wildpfade hinter sich fänden – und dass der Takt, der heimlich in ihre Worte sickert, nicht bloße Angewohnheit ist, sondern der Nachhall einer fremden, mitwaltenden Autorität, die ihnen in den wachen Wald hinaus gefolgt ist und fortan wie ein unsichtbarer Schreiber jedes Versprechen mitschneidet. Bernulf spürt es im Kribbeln unter dem Eisenreif: selbst ein hingeworfenes „morgen vielleicht“ trägt nun Gewicht, als lausche irgendwo hinter den Buchen ein unsichtbarer Hof darauf, ob aus Reden wieder Schwüre werden.

Der erste seiner Läufer löst sich hinter einem Birkenstamm aus dem Streuschattenspiel, nichts als Ellenbogen, Kinnknochen und misstrauische Augen, die schon nach der gewohnten, hastigen Übergabe suchen: ein paar Münzen, ein zerknülltes Zettelchen, dazu Bernulfs altes, schnappendes Säbelrasseln aus halben Drohungen und hingeworfenen Versprechen. Stattdessen findet er den Jungen aufrecht stehend, den zu großen Mantel ordentlich geschlossen, das Kinn nicht trotzig, sondern still gesetzt. Als Bernulf spricht, ist seine Stimme flach wie ein stiller See und ebenso tief; er nennt Wege, Anlaufpunkte, Zwischenzeichen, verteilt Lasten und Ziele, als verteile er Ämter an einem Hof.

„Du nimmst den alten Köhlerstieg bis zur dritten Senke, nicht weiter“, sagt er, ohne zu rasen, ohne zu drängen. „Zwei Läufe heute, keinen mehr. Wenn sie dir zu viel aufladen wollen, sagst du: Beim Ring und beim Rauch dieses Waldes bleibst du im Maß. Und dann kommst du zurück.“ Kein Keifen, kein „oder ich brech dir die Finger“ – nichts, was der Läufer erwartet hat. Doch bei jedem Satz wird die Luft um sie dichter, als ob der Schwarzwald selbst mitlauschte, prüfend, abwägend.

Der Junge richtet sich unbewusst, stopft das Grinsen weg, das ihm sonst bei jeder Anweisung um den Mund hängt. In seinem Nacken kriecht ein kalter Hauch, als hätte jemand einen Faden an ihn geknüpft, fein wie Spinnseide und doch mit dem Zug eines nassen Stricks. Für einen flirrenden Augenblick malt seine Fantasie ein Bild: Er wirft die Tour, verschwindet zum Fluss, macht mit anderen Jungs leichte Beute. Doch die Vorstellung bleibt seltsam blass, unfertig, als schlüge ein unsichtbarer Daumennagel sie wieder zu.

Er merkte noch, dass er den Mund öffnen wollte, um irgendeine Ausflucht zu finden – „Wenn ich’s schaffe“, vielleicht, oder „ich seh, wie’s kommt“ –, da fällt sein Blick auf den Eisenreif an Bernulfs Handgelenk. Der Ring hängt schwer wie immer, mit Leder umwunden, Runenschnüre dunkel vor Harzflecken; doch etwas in der Art, wie Bernulf die Hand hält, ist neu. Nicht mehr wie jemand, der eine Fessel versteckt, sondern wie einer, der ein Siegel zeigt. In der gedämpften Helligkeit unter den Birkendächern flackert für einen Atemzug ein matter Schimmer über dem Metall, kaum mehr als ein Irrlicht in der Politur.

„Verstanden“, sagt der Läufer, bevor er recht weiß, dass er sich entschieden hat. Das Wort kommt ihm sauber über die Lippen, ohne das alte „vielleicht“ am Ende, das sonst immer mitschlich. Als er sich abwendet, um in den Seitenpfad zu tauchen, fühlt er hinter sich den Wald einen Moment lang den Atem anhalten, als wartete er, ob der Junge das Gegebene in den Dreck wirft. Erst als seine Schritte tiefer zwischen Farn und Hasel verschwinden, lässt die unsichtbare Spannung nach, und mit ihr das flüchtige Bild der eigenwilligen Abzweigung, die er hätte nehmen können.

Die Birke, hinter der er eben noch stand, knarrt leise im kaum vorhandenen Wind, als ob sie den Namen, die Route, die knappe Zusage in ihr Jahresholz zöge. Bernulf bleibt noch einen Herzschlag reglos, den Blick in die Spreu, und Sigerhild, die wenig abseits steht und tut, als prüfe sie bloß die Riemen ihres Bündels, hört in der gleichmäßig gesprochenen Ordnung den tiefen, fremden Einschlag des Hallenrechts nachhallen. Jeder Befehl, nüchtern geraten und ohne Fluch, trägt nun eine Schwere, die niemand von ihnen bestellt hat – und die sich doch wie ein versprochenes Rückgrat in die lose Bande seiner Kinder hineinlegt.

Der zweite Läufer, kaum älter als zehn, mit Fuchsaugen und zu großen Stiefeln, schnaubt leise, mehr aus alter Gewohnheit als aus wirklicher Frechheit. „Ich nehm den weiten Bogen über die Mühle“, murmelt er, „da fällt bestimmt ein bisschen Überschuss vom Karren…“ Das letzte Wort verrinnt ihm auf halber Silbe. Es ist, als hätte jemand zwischen Kehle und Zunge einen dünnen, kalten Span geschoben. Bernulf dreht nur den Kopf, nicht ruckartig, nicht mit der scharfen Bewegung des Drohenden; er schaut. Bloß das: ein stilles, abwägendes Hinsehen, die grauen Augen trocken, ohne Glanz.

In dieser Ruhe liegt ein kaum fassbares Ziehen, als straffe irgendwo jenseits der ersten Baumreihe jemand eine unsichtbare Leine nach. Kein Licht flackert, kein Rauchzeichen steigt, und doch geht ein feines Rascheln durch die Haut der Umstehenden, als würden die Haare am Unterarm den Wind einer unsichtbaren Sense spüren. Der Witz schmeckt dem Jungen plötzlich dumpf, wie schlecht gewordenes Brot.

„Ich geh, wie du’s gesagt hast“, stößt er hastig nach, rückt den Strickbeutel zurecht. „Geradeaus, kein Umweg.“ Das korrigierte Wort fällt schwerer als das Gesagte zuvor, sinkt aber fester in die Stille. Irgendwo in den Zweigen knackt es leise, als bestätige der Wald die neue Fassung. Bernulf hebt nur minimal die Kinnspitze, lässt die Aufmerksamkeit weiterziehen, und der Junge merkt erst beim ersten Schritt, dass er die alte Ausflucht – „nur ein bisschen nebenher“ – gar nicht über die Lippen gebracht hat.

Erst als die Läufer sich in Buschwerk und Seitengassen des Waldes verstreut haben, Wege verteilt, Zeichen verabredet, senkt Bernulf den Blick auf seinen Ring. Der Daumen fährt den vertrauten Grat des Eisens nach, die eingeritzten Zeichen unter der dunklen Schnur, nicht suchend, nicht trotzig, sondern mit einer finsteren Art von Annahme. Früher hatte er die scharfe Kante heimlich in die Haut gedrückt, als könnte er durch Schmerz die im Metall lauernde Strafe heraufbeschwören und alles rasch beenden. Jetzt zupft er nur das Leder zurecht, dreht den Reif, bis er gerade sitzt, sichtbar, wie ein kleiner Herr, der darauf achtet, dass sein Siegel beim Sprechen im Licht liegt – wissend, dass jede eben noch ausgesprochene Wegweisung neue Leben in dasselbe Geflecht aus Bindung und Drohung geflochten hat, das einst nur sein eigenes Verderben versprach.

Sigerhilds Stirn legt sich schmal in Falten, als sie das beobachtet, das alte Rechnen von Druckmitteln und Winkeln wie gewohnt in ihr hochkriecht – nur um ins Stocken zu geraten, als sie den Nachklang seines Sprechens förmlich auf der Luft schmeckt, schwer wie Rauch aus der Halle. Als eines der kleineren Kinder zu ihr aufschaut, suchend, halb trotzig, halb hoffend, zuckt ihr zuerst die geläufige Ausrede auf die Zunge, das glatte Wegschieben von Verantwortung. Stattdessen merkt sie, wie ihre Lippen lautlos die Einsetzung eines Wahrwort-Spruchs formen, ein leises Geraderücken von Rede und Wille, ehe sie bloß sagt: „Du tust, wie er’s dir hieß.“ Das schlichte Gebot legt sich ihr in den Mund wie ein kleines, bewusst hingelegtes Opfer, und sie spürt, wie etwas Unsichtbares es annimmt.

Beim Weitergehen, dorthin, wo die Stämme lichter stehen und das Licht weniger wie ein Dach, mehr wie zögernde Schleier wirkt, prüft Sigerhild ihre eigene Stimme in bruchstückhaften Murmeln: die rechte Anrede für unsichtbare Zeugen, das langsame Setzen eines Versprechens ohne Schlüpflöcher. Zweimal schon will sie dem müden Blick eines Kindes die alten Straßenfloskeln hinwerfen – „wenn Wodan will“ und „so gut ich kann“ –, halb Wahrheit, halb Ausrede. Jedes Mal streift sie im gleichen Atemzug der frostige Nachhall der Halle im Genick, als strecke sich eine unsichtbare Hand aus kaltem Stein nach ihrem Wort. Sie verschluckt die Bequemlichkeit, lässt Lücken leer statt sie mit Lüge zu füllen. Neben ihr verstummt Bernulf allmählich ebenfalls, die Sätze kürzer, härter umrissen; bis der erste ferne Hauch von Rauch und Stallmist ihre Nasen erreicht, gehen sie wie zwei Leute, die gelernt haben, dass selbst ein hingeworfenes „ja“ irgendwo im Dunkel mitgezählt wird.

Der Weg speit sie wieder aus in den ausgefransten Saum des Handels: Wagenspuren, kaltgewordener Mist, der ferne, müde Schrei eines Marktschreiers, der über welkgewordene Kohlköpfe und stumpfgeschlagene Speerspitzen falschen Eifer legt. Bernulf spürt, wie sein Kopf aus Gewohnheit zu rechnen beginnt – wer so hohlwangig ist, dass ein Beutelriss sich lohnt, bei welchem Knecht der Blick abschweift, wo zwischen Wagenkasten und Mauer ein Kind hindurchschlüpfen könnte. Doch das Zählen kommt ihm schal vor, dünn wie Kupferklimpern in einer Halle, die sich noch an goldgeschmiedete Ringe und bluterkaufte Schwüre erinnert.

Er merkt, dass seine Gedanken nicht an der Kante des nächsten Wagens hängenbleiben, sondern an Worten, die er selbst schon ausgestreut hat: Versprechungen, halblaut oder in knapper Geste, an seine Läufer – dass heute Fleisch im Eintopf sei, dass keiner hungrig schlafen müsse, solange sie unter seinem Ring laufen. In der Stille zwischen Marktschreien hört er den dumpfen Widerhall des Oth-Steins, wie ein fernes Schlagen im eigenen Brustkorb. Er weiß jetzt, wie sich Bruch anfühlt, noch ehe er geschieht; ein metallischer Geschmack im Mund, ein Ziehen in der Hand, wo der Reif sitzt.

„Wir könnten…“ beginnt eines der Kinder neben ihm, der Kleinste mit den aufgescheuerten Knien, und Bernulf braucht einen Herzschlag zu lang, ehe er begreift, dass der Junge von einer Gelegenheit zum Stehlen redet, die er am Wegrand erspäht hat.

„Nein“, sagt Bernulf knapp. „Nicht heute.“

Der Junge blinzelt, verwundert, nicht weil das Verbot neu wäre, sondern weil Bernulf nicht einmal nach dem Gewinn fragt. „Aber der da merkt nichts“, insistiert er leise.

Bernulf folgt wider Willen dem Fingerzeig, mustert den dösenden Fuhrknecht, die schlecht gebundene Schnur am Beutel. Früher hätte er die Lage in zwei Atemzügen eingeschätzt, Nickzeichen gegeben, Spielräume abgesteckt – ein kleiner Griff hier, eine Härte dort, und schon wären drei Mäuler mehr gestopft. Nun schiebt sich ein anderes Maß dazwischen: Was hat er diesem Fuhrknecht nie versprochen, und was seinen eigenen Leuten schon? Er denkt an die Gesichter, die ihn im Halbdunkel der Halle angesehen haben, als er sagte: „Unter meinem Wort lebt ihr.“

„Er merkt’s vielleicht nicht“, sagt er schließlich, „aber sein Kind daheim schon, wenn weniger Brot auf dem Tisch liegt.“ Die Worte kommen ihm ungewohnt vor im eigenen Mund, fast wie ein Spruch, und irgendetwas in der Luft zieht sich zusammen, lauscht.

Der Kleine verzieht das Gesicht. „Die haben mehr als wir.“

„Mag sein“, antwortet Bernulf. „Doch ich hab dir gestern Fleisch versprochen. Ich bestahl ihn nicht, um mein Wort zu halten.“

Er hört sich selbst reden und wartet beinahe auf das spöttische Lachen, das er früher manchem Priester hinterhergeschoben hätte. Stattdessen spürt er nur den dumpfen Druck des Eisens um sein Handgelenk, nicht als Drohung, sondern als Erinnerung. Versprechen sind keine Münzen, die man beliebig umtauscht. In Eichenkrone hat er gelernt, wie schwer ein einziges Wort liegen kann, wenn es einmal auf Stein gefallen ist; nun wiegt er jede Silbe, als könnte irgendwo zwischen Wagen und Wald ein unsichtbarer Richter mitrechnen.

Als sich zwei schmutzige Straßenjungen im Grabenrand an ihre Fersen heften, bemerkt Sigerhild das geübte Maß ihres Abstands, das beiläufige Abtauchen in jeden Schatten, und wie der Größere einen Stein in der Handfläche verbirgt, Daumen schon am Rand, bereit für einen ablenkenden Wurf in Augen oder Pferdeleib. Früher hätte sie die Rolle der frommen Umherziehenden gespielt, den Blick absichtlich zu lange im Gebet an den Himmel geheftet, während leichte Finger an einer Beutelschnur probten – nur um danach, über ein paar Krüge Dünnbier, feinsäuberlich herauszurechnen, wie weit der Arm des unsichtbaren Hehlers reichte, der solche Bälger aussendet. Information war Ware gewesen, und Kinderarme nichts als Zählsteine in fremden Spielen.

Nun mustert sie dieselben Jungen wie mögliche Schützlinge in Bernulfs Geflecht – Wesen, die schon halb in einer fremden Oth-Spinnerei hängen. Der Gedanke, sie zu bloßem Druckmittel zu machen, schlägt ihr im Magen um wie schlecht gewordenes Fett. Vor ihrem inneren Auge schieben sich die Runen des Hallensteins wieder unter ihren Fingerspitzen, glimmend und sich verstellend, als hätten sie sie sich gemerkt. Seither fühlt sich jede beiläufig hingestellte List wie eine Gotteslästerung an, zu nah an einem Altar in der Finsternis geflüstert, an dem noch jemand horcht. Sie senkt unwillkürlich die Stimme, als sie an Bernulf gewandt sagt: „Die da gehören schon wem. Reiß sie nicht noch tiefer hinein, wenn du sie haben willst.“

Vor einem Wegschrein, dessen Antlitz von Eiferern fast bis zur Unkenntlichkeit heruntergehackt ist, bleibt Bernulf einen Herzschlag lang stehen. Zwischen den ausgefransten Holzfasern klaffen noch blasse Schatten alter Zeichen, halb Götterbild, halb Kaufmannsbitte. Früher hätte er gelacht, mit dem Fingernagel ein obszönes Mal daneben geritzt, seinen Läufern damit stumm erklärt, dass weder alte noch neue Götter ihm enger die Kehle schnüren könnten als sein eigener Wille. Seine Hand zuckt bereits nach einem verkohlten Aststück am Wegrand. Doch die Bewegung erstirbt, als die Erinnerung zuschnappt: der Ring, der sich in Eichenkrone wie eine schließende Fessel um sein Handgelenk zog; das lauernde Schweigen der Halle, als er nicht nur für sich, sondern für jedes hungrige Kind unter seinem Wort schwor. Spott wirkt plötzlich lächerlich klein, ein trotziges Fußstampfen in einem Gerichtssaal, in dem der Richter längst aufgehorcht und seinen Namen notiert hat. Er lässt das Kohlenstück liegen, zieht die Finger zurück, als könnten selbst flüchtige Schmierereien im Holz nun mitgezählt werden. Hinter ihm raschelt einer der Jungen ungeduldig, wartend auf die alte Geste der Verachtung; Bernulf aber geht weiter, stumm, den Blick nicht mehr auf die verstümmelten Bildnisse, sondern auf den staubigen Weg vor seinen Stiefeln gerichtet.

Am ersten Schankstand, an dem sie vorüberziehen, lehnt sich eine gedrungene Frau mit scharfen Augen zu Sigerhild, wittert im geraden Rücken und der Art, wie sie den Blick senkt, den Schliff alter Tempelschulen. Halblaut raunt sie von einem Kaufmann, dessen Handel „ein wenig göttlichen Druck“ gebrauchen könne, damit ein störrischer Kontrakt sich beuge. In Sigerhild steigt die alte Formel wie ein Reflex hoch – ein paar halblegitime Wendungen, ein theatralisches Schaben der Messerklinge über die eigene Handfläche, ein Tropfen Blut auf Pergament, und der Mann würde glauben, die Götter selbst hätten ihr ein Schlupfloch zugeflüstert, das nur sie benennen dürfe. Doch die Kehle schnürt sich ihr zu, die Lippen bleiben trocken. Hinter den Lidern sieht sie die silbernen Adern des Oth-Steins aufglimmen, als fingen sie fernes Licht oder Widerspruch ein, und sie begreift, dass ein solches Verdrehenspiel mehr wäre als ein kluger Handel: ein Faden, der aus jenem größeren Gewebe gerissen würde, dem sie sich unter den gewölbten Ästen von Eichenkrone eben erst verpflichtet hat.

Später, als einer von Bernulfs jüngeren Ausguckern heranstiebt und heiser von einer fremden Bande am gewohnten Kreuzweg stammelt, ist der eilige Vorschlag schlicht: hart zuschlagen, ein Zeichen setzen, damit niemand mehr fragt, wem die Straße gehört. Bernulf hört das erwartete Stück in der Stimme – Angst, maskiert als Großtuerei, die alte Logik vorbeugenden Schreckens. Die Antworten auf seiner Zunge kommen diesmal langsamer, geformt vom Nachhall der Halle statt von Gassenschlägen. Er fragt, wer von den Fremden an etwas gebunden ist, das nach Eid klingt, wer hungrige Münder hinter sich hat, wen man mit einem Versprechen abbiegen kann statt mit der Klinge. Der Junge blinzelt begriffslos; Bernulf spürt mit einem kurzen Ruck, dass dies der erste sichtbare Riss ist zwischen dem Balg, der nur herrschen wollte, und dem Eidträger, der widerwillig lernt, nicht nur Furcht, sondern Folgen zu zählen.

Bernulf beginnt damit, die Linien seines kleinen Reiches neu zu ziehen – nicht mit großen Reden, sondern mit leisen Verschiebungen, die nur der bemerkt, der lange hinblickt. Die verwegensten, übereifrigsten Läufer, jene, die früher jeden riskanten Botengang wie eine Mutprobe forderten, schickt er plötzlich auf Wege, die zwar wichtig, aber weniger blutig sind: Nachrichten zwischen Verstecken, Wachposten an Kreuzungen, das Auge auf den Schankbänken, wo Gerede mehr wert ist als Stahl. An ihre Stelle, im Schatten der eigentlichen Gefahr, will mancher der Kleineren treten, um sich zu beweisen – und staunt, als Bernulf ihn zurückweist.

„Du bleibst bei Hasko,“ sagt er zu einem mageren Buben, der kaum ein Dutzend Winter zählt. „Wenn er rennt, rennst du nicht vor ihm, sondern hinter ihm. Deine Augen sind deine Waffe, nicht deine Rippen.“ Der Junge protestiert, rot vor verletzter Ehre, doch Bernulf lässt den Blick nicht zucken. Er verteilt ältere Mädchen an die Ausgabestellen für Brot und Decken, bindet sie an feste Orte, wo sie die Jüngsten zählen, ihre Namen lernen, darauf achten, wer hustet, wer heimlich blutet. Die Besten seiner Straßenhunde macht er zu Hirten, und er merkt, wie schwer ihnen diese neue Art von Mut fällt.

Als einer seiner Leutnants – ein schmalgesichtiger Bursche mit zu schnellen Händen – spöttisch meint, die Halle habe ihm das Herz weichgekocht, bleibt Bernulf vor ihm stehen. Sein Blick wird still und schwer, wie Wasser in einer tiefen, dunklen Quelle. Die Worte, die er findet, tragen den Nachhall von Stein und Blätterraunen: „Für jeden Tropfen Blut, der jetzt wegen uns fällt, steht mein Name. Meine Hand. Mein Ring.“ Er hebt das mit Leder umwickelte Eisen, das an seinem Handgelenk liegt, nur einen Fingerbreit, doch das genügt; der Luft scheint ein kalter Stich innezuwohnen. „Und die Stille der Halle hört mit.“

Der Leutnant will zuerst lachen, doch irgendetwas in Bernulfs Gesicht – eine Härte, die nicht von Schlägen, sondern von Schwüren kommt – lässt ihm das Spötteln im Hals stecken bleiben. Er senkt die Augen, murmelt etwas von „wie du willst, Herr“, und Bernulf spürt, wie sich ein unsichtbarer Kreis schließt: Wer unter seinem Wort steht, steht nun nicht mehr nur unter seiner Furcht, sondern unter einer Last, die in Eichenkrone geweckt wurde und nicht wieder einschläft.

Wenn unter seinen Leuten der Streit aufflammt – um verschwundene Münzen, getretene Ehre oder ein Wort, das schneller flog als der Verstand –, führt Bernulf eine neue Sitte ein. Ehe eine Klinge aus der Scheide darf, stellt er die Hitzköpfe vor sich hin, läßt sie nebeneinander stehen wie Angeklagte vor einem unsichtbaren Stein.

„Sag mir, was dir geschuldet ist,“ befiehlt er. „Nicht im Fluch, im Maß.“

Der erste, den er so stellt, stottert nur Floskeln, bis Bernulf nachhakt: „Wie viele Pfennige? Wie viele Schläge? Wie viele Tage Bann?“ Dann: „Und schwör mir, was du tun wirst, und was du nicht tun wirst.“

Es wirkt zunächst wie Spielerei. Die Älteren schnauben, die Jüngeren kichern, rollen mit den Augen, wenn sie gezwungen werden, in klaren Worten zu nennen, was sie verlangen – und wozu sie die Hand nicht erheben wollen. Doch Bernulf weicht nicht, wiederholt die Prozedur, Tag um Tag. Mehr als einmal merkt er, wie beim Aussprechen die Wut versiegt, als griffen unsichtbare Haken in die schlimmsten Vorsätze und rissen sie zur Seite; Drohungen, die eben noch nach Blut klangen, schrumpfen zu Nachtwachen, zu gerechtem Anteil aus einer Beute. Die Erinnerung an den Oth-Stein steht kalt hinter seinem Rücken, und die Halbstarken spüren, ohne es benennen zu können, daß ihre Worte seit Eichenkrone schwerer im Raum liegen.

Sigerhild indes beginnt, sich in Feilschereien zu drängen, die sie früher aus dem Schatten gelenkt hätte. Als ein Hehler Bernulfs Bande durch ein paar hingeworfene Worte an die Lieferung von Relikten „mit allen nötigen Mitteln“ binden will, lächelt sie nur dünn und nimmt ihm Satz um Satz auseinander. Jedes „nötig“ muß ein „benannt“ werden, jedes „Verlust“ eine Zahl; sie zwingt ihn, laut festzuhalten, daß kein Kind genommen, verstümmelt oder verkauft werde, um eine Schuld zu tilgen. Ihre Stimme bleibt tief und beinahe gelangweilt, während ihre Finger unsichtbare Runen an der Tischkante nachziehen, als zählte sie Zeugen auf, die keiner sieht. Mehr als ein abgebrühter Krämer geht aus solchen Gesprächen und hat das beklemmende Gefühl, vor einem älteren, härteren Gericht gestanden zu haben, dessen Urteil noch aussteht.

Man munkelt halb spöttisch, halb mit einem Schauder, Bernulf biete nun „krumme Eide“ denen an, die unter seinem Schutz stehen wollen – Schwüre, die seine Leute zwingen, zurückzuweichen, wenn Unbeteiligte im Schnitt liegen würden; Brot zu teilen, ehe Münzen versteckt werden; die Flucht als ehrenhafte Wahl zu nehmen, wenn der Preis des Stehenbleibens zu hoch steigt. Ein paar hitzige Junge laufen davon, gierig nach einfacherem, blutigem Dienst unter gröberen Bannern. Doch die, die bleiben, merken nach und nach, daß der Schlaf tiefer wird, daß der Magen weniger vor der Angst krampft, daß der nächtliche Schritt durchs Dunkel nicht mehr bei jedem Schatten fragt, welchen blinden Preis der nächste Überfall fordern wird.

Bei dünnem Eintopf oder unter triefenden Traufkanten sitzen sie beieinander und legen die Abreden des Tages nebeneinander wie abgelegte Rüstungen. Bernulf zählt Klauseln statt Münzen, Sigerhild lauscht auf jedes „wenn“ und „es sei denn“, als könnte darin Gift stecken. Sie reden nicht von Rettung, nicht von Schicksal; sie reden von Formulierungen, von Lücken, von Worten, die Türen aufstoßen oder zuschlagen. Nach und nach begreifen sie, daß diese ständige Wache über Silben kein vorübergehender Fluch Eichenkrones ist, sondern das Rückgrat der neuen Gestalten, in die sie – linkisch, trotzig – hineinzuwachsen versuchen.

Im Gewühl der Schankstuben und auf den schmierigen Märkten Waldheims fühlt ihre Rückkehr sich weniger an wie Heimkommen, mehr wie das Hineinstolpern in einen Streit, der schon seit Stunden tobt. Die Stadt hat in ihrer Abwesenheit eine neue Haut angesetzt: andere Bandenzeichen an den Türen, frische Messer in alten Händen, Worte, die wie Funken fliegen. Überall wird geraunt, gekeift, gefeilscht, als sei jede Zunge ein Feuerstahl und jeder Satz nur dazu da, den nächsten Brand zu schlagen.

Sigerhild hält die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und beschäftigt die Hände mit Dingen, die harmlos aussehen: sie wiegt getrocknete Wurzeln in der hohlen Hand, zupft welke Blätter von Heilkräutern, kratzt mit stumpfer Feder Zahlenkolonnen in wacklige Wachstafeln. Nicht, weil sie diese Gassen nicht mehr kennt – sie weiß, welcher Winkel welchem Hehler gehört, welche Schwelle unter welchem Schutz steht –, sondern weil jede geschriene Bierschwurerei, jede hingeraunte Drohung nun wie ein grober Finger über eine frische Narbe fährt.

Der Schwurstein Eichenkrones scheint in ihrem Innern nachzuhallen. Wo andere nur Geschrei hören, hört sie Gewicht: ein „Darauf kannst du dich verlassen“ schlägt in ihrem Brustkorb schwerer nieder als ein Münzbeutel auf der Theke. Ein Halbstarker ruft quer durch den Markt, er werde „bei seinem Blut“ jeden verraten, der ihn schief ansieht – der Spott im Satz prallt an ihr ab, doch das leichtfertig angerufene Blut läßt sie innehalten, als habe jemand im Gedränge ein Messer gezogen.

Sie ist es gewohnt, zwischen Priestersprache und Gaunerslang zu wechseln, Drohungen in Segensformeln zu kleiden und fromme Reden zu verkaufen wie Schmuggelware. Aber nun spannt sich in ihr bei jedem hastigen „Ich schwör’s dir“ ein unsichtbares Band, als lausche eine geduldige, fremde Präsenz mit. Es ist nicht Ehrfurcht, die sie bremst, sondern das kalte Wissen darum, was ein leicht gesprochenes Wort kosten kann, wenn es einmal an die falsche Stelle bindet.

So mißt sie nicht nur Kräuter, sie mißt Sätze. Sie zählt nicht nur Kupferstücke, sondern Bedingungen, Auswege, mögliche Wunden, die aus einem falschen „ja“ wachsen könnten. Und in dem Geschrei der Wirtshäuser, im Schlamm der Gassen geht sie wie jemand, der genau weiß, daß der Boden voller unsichtbarer Schlingen liegt – und daß die meisten, die darüber hinwegstapfen, noch keine Ahnung haben, daß ihnen schon der Strick um den Fuß liegt.

Zuerst merkt man die Wandlung an den kleinsten Geschäften, dort, wo früher kein Gedanke an Schwur oder Klausel verschwendet wurde. Eine Fischweib schreit ihr über den Markt hinweg einen Nachlaß zu, „bei allen Heiligen“ wolle sie ihr die Differenz später bringen. Sigerhild lächelt dünn, wiederholt die Worte, streicht das Beschwören mit einem beiläufigen „also, du nennst diesen Preis für heute“ aus dem Satz, als glätte sie einen Fehlstrich auf Pergament. Die Frau schnaubt nur und nickt; sie hat nicht einmal bemerkt, daß ihr ein unnötiger Haken aus der Rede genommen wurde.

Ein alter Hehler aus ihren dunkleren Tagen versucht es gröber. Er legt ihr einen Beutel mit beschlagenen Ringen vorsichtig in Reichweite, läßt den Daumen über die Lederschnur gleiten und verlangt ein „festes Versprechen“ für spätere Dienste. Früher hätte Sigerhild die Aura priesterlicher Gewißheit wie ein Messer gezogen, ein paar wohlgesetzte Segensworte über das Geschäft gesprochen und den Handel mit einer halbgöttlichen Endgültigkeit besiegelt. Jetzt aber antwortet sie langsam, setzt Grenzen und Ausnahmefälle, nennt laut die anwesenden Ohren als Zeugen, formuliert so, daß jede Verpflichtung an Ort, Zeit und Zweck gekettet bleibt.

Der Hehler verengt die Augen, wittert Verrat, weil sie ihm keinen blanken Schwur liefert. Er begreift nicht, daß es gerade ihre neue Vorsicht ist, die ihn vor einem Knoten bewahrt, den keiner von beiden mehr gelöst bekäme. Sigerhild läßt sich nicht hetzen; sie umkreist jedes „versprochen“ wie ein Tier, das die Schlinge im Gras längst sieht und trotzdem noch so nahe herangeht, daß es den Mechanismus zu verstehen hofft. So werden Marktgeschrei und Gaunerdeal zu Prüfsteinen: nicht mehr, wer am lautesten schwört, setzt sich durch, sondern wer am wenigsten giftige Worte in seinem Handel duldet.

Bernulfs Bande spürt die Verschiebung am schärfsten. Wenn er seine Läufer im ersten Blaßgrau des Morgens unten am Fluß sammelt, nimmt er kein hingeworfenes „Bin dabei“ mehr hin, kein stummes Nicken, das früher genügte. Er läßt sie Satz für Satz aussprechen, was sie heute tun werden – und was nicht. „Ich schau mal, was sich ergibt“ genügt ihm nicht; er hakt nach, zwingt sie, Wege, Grenzen, Rückzugszeichen zu benennen. Greift jemand im alten Trott nach einem hastigen „Schwör’s bei meinem Blut“, hebt er nur die Brauen, legt ein nüchternes „Du meinst: ich gebe mir Mühe“ daneben, bis der Spuk aus dem Wort gewichen ist.

Ein paar der Älteren maulen, er werde noch selbst zum Pfaffen oder traue keinem von ihnen mehr. Doch selbst die Lautesten verstummen, wenn sie bemerken, wie aufmerksam er inzwischen zuhört – wie sein Blick an jedem Halbversprechen hängenbleibt, als wäge er es auf unsichtigen Waagschalen. Der Junge, der früher mit Frechheit, Schuldbriefen und Drohkulissen herrschte, verlangt nun Schärfe in der Rede. Das alte, leichte Kameradschaftsgefühl, dieses Schulter-an-Schulter-im-Schlamm, bekommt Risse und Ränder, bis ihre morgendlichen Besprechungen sich anfühlen, als stünden sie unversehens in einem halbsichtbaren Schwurkreis, dessen Linien nur Bernulf klar erkennt.

Diese neue Schwere schwappt hinüber in ihre Geschäfte mit jenen, die im Grenzland wirklich Gewicht haben. In einer Schenke, wo ein Verwalter eines Kleingrafen und ein rivalisierender Hauptmann sich bei dünnem Bier verständigen, läßt Bernulf eine halb im Scherz hingeworfene Drohung – man werde ihm „alle Knochen brechen, wenn er quersteht“ – nicht im Gelächter versickern. Er hebt nur den Kopf, fragt freundlich, ob der Mann diese Worte vor allen Anwesenden an sich binden wolle. Das Lachen bricht ab wie eine schief angeschlagene Saite. Sigerhild, halb im Schatten an seiner Schulter, nimmt den Faden auf und verwandelt das geplante Schutzgeldgerede in eine Reihe klarer Pflichten, Grenzen, Kündigungsgründe, zieht das übliche Prahlen und Zwielicht aus den Sätzen, bis nichts als nackte Bedingungen übrigbleiben. Was als unverbindliches, jederzeit abstreitbares Beisammensitzen gedacht war, gerinnt unter ihrem gemeinsamen Druck zu etwas, das unheimlich an einen ungeschriebenen Vertrag erinnert – und ihre Gegenüber gehen mit der beunruhigenden Ahnung hinaus, daß sich die Spielregeln verschoben haben, ohne daß jemand sie laut benannt hätte.

Je mehr sie auf dieser Achtsamkeit bestehen, desto einsamer werden sie. Alte Bekannte sparen sich Sigerhild für Hinterzimmergespräche aus, murren, sie „mach’ aus jeder Kleinigkeit ein Verdammungsurteil“. Bernulf hört, wie man tuschelt, er sei weich geworden, verstecke sich hinter spitzfindigen Formulierungen statt klaren Schnitten. Über vollen Tischen tauschen sie Blicke, wenn jemand ein boshafter Scherzschwur oder ein großmäuliges Versprechen in den Rauch wirft, spüren fast körperlich die unsichtbaren Linien, die sich im Raum ziehen, verknoten, ausfransen. Unter Leuten, die Sprache noch wie Abfall behandeln, zeichnet sie gerade ihre Weigerung, sie so zu mißbrauchen, als Fremde aus – Träger eines Wissens, das niemand bestellt hat und kaum jemand erträgt, während um sie her Waldheim weiter von Worten brodelt, die nur darauf warten, zu Ketten zu gerinnen oder wie morsches Seil zu reißen.

Der Wind fährt kammend durch das struppige Gras um ihre Stiefel, trägt von der Stadt herauf keinen unterscheidbaren Ruf, nur ein grobes, übereinanderstürzendes Brausen. Sigerhild schließt die Augen, mehr um den Anblick des zuckenden Fackellichts loszuwerden als um besser zu hören, und doch beginnt sich das Getöse von selbst zu lösen, Schicht um Schicht. Ein Fuhrknecht unten am Tor knurrt zwischen zusammengebissenen Zähnen, er wolle „bei allen Heiligen“ nie wieder mit einem bestimmten Kramer handeln; das „nie“ schlägt in ihrem Inneren dumpf auf, hohl wie ein schlecht ausgehöhlter Stein. Ein Betrunkener vorm Schankhaus lallt jemandem ein Schlageversprechen zum Morgengrauen entgegen, leichtdahinsagend, mit dem Nachgeschmack billigen Bieres, und doch zieht der Satz wie ein dünner, rostiger Draht. Am Ziehbrunnen, halb verborgen vom dunklen Schatten des Wehrturms, schlüpft eine flüsternde Zusage zwischen zwei Jugendlichen hindurch – ein Versprechen, zu warten, treu zu sein, heimlich wiederzukommen, „so wahr ich atme“.

Sie will ihnen nicht nachspüren, diesen Stimmen, aber sie kommen trotzdem. Jeder von diesen Sätzen nimmt in ihrem Geist eine fahle Färbung und ein Eigengewicht an, als wären es Fäden, die aus unsichtbaren Spulen gezogen und irgendwo jenseits des Hügels straffgehalten werden. Manche sind so dünn, daß sie fast schon beim Entstehen reißen; andere sind grob geflochten, tragen schon die Kerben älterer, ähnlicher Schwüre in sich. Zwischen ihnen schimmern jene leeren, abgegriffenen Redefloskeln – „bei meinem Leben“, „faß mich beim Wort“ –, die nur noch wie Staub in der Luft treiben, ohne Halt zu finden, und doch jedesmal an etwas rühren, das nicht mehr ganz schläft.

Sie zwingt sich, ruhiger zu atmen, zählt die Ein- und Auszüge, sucht mit einem geübten Reflex nach der inneren Leere, die ein Priester braucht, wenn er einem Sterbenden lauscht. Es kostet sie Mühe, nicht bei jedem achtlos hingeworfenen Schwur zusammenzuzucken, der aus der Siedlung himmelwärts weht. Denn nun, da sie den Geschmack echter Bindung kennt, fühlt sich jedes dieser Worte an wie ein angehauchter Schnitt in frischer Rinde: klein, scheinbar belanglos – und doch eine Spur, an der etwas Altes, Wurzelndes den Weg finden könnte.

Als sie die Lider wieder hebt, steht es vor ihr: nicht klar, nicht mit jenem grellen Aufleuchten, mit dem die Runen im Herz der Halle geantwortet hatten, sondern wie das Nachbrennen eines Blicks in zu helles Feuer – die blassesten Gespinste, kaum mehr als Schimmer. Aus Palisaden und krummen Dächern steigen sie auf, Fäden ohne saubere Ränder, sickern aus offenen Türen, aus Schornsteinmaul und Torbogen, strecken sich tastend zum dunklen Saum der Bäume hin. Am Horizont, wo der Schwarzwald wie eine schwarze Brandmauer hockt, verhaken sie sich ineinander, verfilzen, verschwimmen, als hätte die Gefallene Halle unsichtbare Wurzeln vorgeschoben, die jeden noch so hingeworfenen Satz kosten, prüfen, im Gedächtnis behalten.

Der Anblick schnürt ihr die Kehle zu. Dies ist kein ummauerter Bezirk geweihter Stille, in dem Menschen bewußt vor ein Heiligtum treten. Es ist ein langsames, ausgreifendes Lauschen, das sich über Felder und Wege legt, das niemand fragt, ob es zuhören darf. Ein Lauschen, in dem jedes leichtfertige „schwör’ ich“ zu einem Flüstern in fremdem Ohr wird – weit drinnen unter den Wurzeln.

Neben ihr verlagert Bernulf das Gewicht von einem Fuß auf den andern, zieht mit dem Daumen eine langsfurche nach der andern über das aufgerauhte Leder um seinem Ring, tastet die alten Rillen ab, in denen frühere Schwüre ihm die Haut aufgebissen haben. Die Stadt unter ihnen – Gassen, Ställe, Hinterhöfe – rückt in seinem Innern an einen anderen Platz. Jede vertraute Biegung wird zum Lauf, in dem Worte fließen und hängenbleiben: ein Hinterlager, dick von heimlichen Geschäften; eine Schenkwinkelecke, zugesotten mit leerem Prahlen; eine Stuf’ vor einem Heiligenbild, glitschig von halbherzigen Gebeten. Wo er sonst nur Striche zog, wer welche Straße hält, schiebt sich jetzt eine zweite Karte darüber: wer welche Zusage hält – und von wem sie ihn halten könnte.

„Wenn die wüßten, was sie da füttern,“ murmelt Bernulf, ohne den Blick von der Stadt zu lösen, mehr in das Eisen an seinem Handgelenk hinein als zu Sigerhild. Der Ring gibt keine Stimme, nur einen feinen, zuckenden Druck, der sich bei dem Gedanken an gebrochene Zusagen wie ein engerer Reif schließt: Erinnerung daran, daß seine Macht an dasselbe Geflecht gebunden ist, das er nun überall schimmern sieht. Die Häuserreihen werden ihm zu Fangarmen, die Gassen zu gespannten Strängen; zum erstenmal fühlt sich das Halten dieser Siedlung weniger wie Herrschaft über Boden an, denn wie ein Gang über fremde Spinnfäden, bei dem jeder falsche Tritt die ganze Web’ zurückschnellen lassen kann – auf Täter wie Beherrschte zugleich.

Hinter ihnen sammelt der Wald das letzte Licht in seinem Unterholz, die Baumlinie verdichtet sich zu einer einzigen, lauschenden Silhouette. Kein Wort fällt, als sie sich von jenem drohenden Dunkel ab- und den Herdschimmern, den lammschimmernden Fensterläden zuwenden; nur ihr Gang verändert sich – ein gemeinsames Sichaufrichten, eine bewußte Vorsicht in jedem Schritt talwärts.

Das Murmeln der Vorstadt erreicht sie wie aus größerer Ferne als drei Tagesmärsche: Marktrufe, feuchtes Gelächter, ein barsches „bei meinem Eid!“, das ihr Nackenfell sträubt. Sie treten in diese Geräusche hinein wie in seichtes Wasser über tiefem Grund, die Gesichter ruhig, die Augen wacher als zuvor – Menschen, die durch eine Halle gegangen sind, in der Worte Eisen sind und Nichtswürdigstes Gewicht bekommt. Von diesem Hügel an fühlt sich jede Zusage an, als müsse sie erst unter unsichtbaren, lauschenden Zweigen hindurch – hinab zu jenem Wurzelwerk, das sich nun unter allen Wegen zu regen scheint – ehe man sie wahrhaft gegeben nennen darf.